Der Gärtner hatte den Großteil der Vorgartens vom gefallenen Herbstlaub gesäubert, das er zu einem riesigen Haufen zusammengerecht hatte. Doch der Konsistorialrat ließ sich nicht blicken, und der Gärtner, dem die sympathischen Züge des arbeitenden, bodenständigen Menschen auf dem Gesicht lagen, schickte dem wartenden Pfarrer am halb offen stehenden Gittertor das Gesicht des Bedauerns. Ob der Konsistorialrat sich heute nicht sprechen lassen wolle, ob er etwas gegen ihn, den Pfarrer auf Probe, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, habe, das waren Gedanken, die im Kopf des wartenden Pfarrers hin und her gingen, oder wie wellende Wasser hin und her schwappten, ohne das Rätsel zu lösen. Nun kam der Gärtner und entschuldigte sich, dass der Herr Pfarrer solange warten muss. "Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen, denn das ist alles andere als ihre Schuld", wehrte Eckhard Hieronymus dankend diese Entschuldigung ab. "Ich werde noch einmal nach ihm schauen", sagte der Gärtner, "vielleicht hat sie der Herr Konsistorialrat vergessen. Bei seiner Überlastung wäre das kein Wunder." Er verschwand im Haus und brauchte wieder eine lange Zeit, bis er herauskam, die Eingangstüre leise hinter sich schloss und auf den wartenden Pfarrer zuging. Der Gärtner lächelte, als er ihm mitteilte, dass der Herr Konsistorialrat den Herrn Pfarrer nicht vergessen habe und jeden Augenblick erscheinen werde. "Ich danke ihnen", sagte Eckhard Hieronymus mit etwas belegter Stimme, holte die Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf und las die Zeit: zwanzig Minuten nach elf; er klappte den Deckel zu und steckte die Uhr in die Westentasche zurück.
Die Haustür ging auf, und die untersetzte Gestalt mit dem metallnen Brustkreuz trat vor die Tür. "Ach Sie sind es, Herr Dorfbrunner; wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Sie nicht warten lassen." Das Wort "solange" hatte der Konsistorialrat nicht vor das Wort "warten" gesetzt, als hätte es sich nur um einige Minuten gehandelt. Der Gärtner, der das hörte, schaute dem jungen Pfarrer vor dem halb offen stehenden Gittertor perplex an und schüttelte ungläubig mit dem Kopf. "Kommen Sie doch herein!" Der Konsistorialrat bewegte sich von der Haustür nicht weg, ging Pfarrer Dorfbrunner nicht entgegen, der nun das Gittertor passierte, hinter sich schloss und die gut zehn Meter auf den Konsistorialrat zu ging, der wie eine verkürzte Säule vor dem Eingang stand und mit seiner rechten Hand über das Brustkreuz strich. Er reichte dem jungen Pfarrer, ohne ihm dabei ins Gesicht zu sehen, die Hand mit dem weichen Händedruck, den Eckhard Hieronymus von Jugend an verabscheute, weil sein Vater, der Oberstudienrat Georg Wilhelm Dorfbrunner, immer wieder seine Söhne zum ordentlichen Handgeben angehalten hat, der bei den Männern eindeutig und fest sein sollte. "Kommen Sie, wir gehen gleich in mein Büro." Der Konsistorialrat ging im Parterreflur voraus, betrat als erster das Büro, schloss die Fenster, die offensichtlich zum morgendlichen Lüften geöffnet worden waren, und setzte sich in den bequemen, hochlehnigen Schreibtischstuhl hinter dem überproportional großen Schreibtisch mit der polierten Holzplatte. Eckhard Hieronymus folgte ihm mit dem schlechten Gefühl im Magen und setzte sich auf einen der beiden harten Stühle auf der anderen Seite des Schreibtisches, also dem Konsistorialrat gegenüber, der das hängende metallne Brustkreuz nicht aus der Hand ließ, als hätte er das Kreuz besonders lieb, oder das Kreuz hätte eine noch andere kraftspendende Bedeutung, die an einen Fetisch denken ließ. Von dem, was der Gärtner von der Überlastung sagte, war auf der leeren, staubfrei polierten Schreibtischplatte keine Spur zu sehen. Außer der Schreibunterlage in lederner Einfassung, dem in rotem Kunstleder gebundenen Terminbuch mit der goldfarben eingedruckten Jahreszahl 1918, dem diagonal auf dem Terminbuch liegenden Füllfederhalter und dem leeren Ständer für das teure Schreibgerät lag auf dem Tisch nichts, was nach Arbeit aussah. Auf dem Schreibtisch gab es weder ein beschriebenes noch ein unbeschriebens Blatt.
"Was führt Sie zu mir, Herr Dorfbrunner?" Da konnte man in der Spekulation weit ausholen. Eckhard Hieronymus zog den Brief mit der schwarzen Umrandung aus der Brusttasche und hielt ihn dem Konsistorialrat entgegen. Er hatte mit dem Brief in der Hand die Mitte der Schmalseite des Schreibtisches erreicht und hatte Hemmung, die andere Tischhälfte, über die die Hand des Konsistorialrates entgegenzukommen hatte, mit dem Brief zu überqueren. Doch die Hand kam nicht entgegen, sie ruhte mit den kurzen dicken Fingern auf dem metallnen Brustkreuz. Da sich der Konsistorialrat mit der Handreichung, anders als erwartet, zurückhielt und bei seinem Kreuz blieb, legte ihm Eckhard Hieronymus den Brief seines Vaters auf den Schreibtisch, bis an die Schreibunterlage heran, und sagte ihm den Inhalt des Briefes voraus, weil er mit der Hand einfach zögerte, an den Umschlag heranzugehen, ihn zu fassen, den Brief aus dem Umschlag herauszuziehen, zu entfalten und ihn zu lesen. "Mein Bruder Hans Matthias ist gefallen. Spät erreichte die Nachricht meine Eltern, und gestern erhielt ich den Brief." Der Konsistorialrat hielt die Schreibunterlage in seinem Blick fest: "da darf ich Ihnen mein tief empfundenes Beileid aussprechen." "Vielen Dank, Herr Konsistorialrat", erwiderte Eckhard Hieronymus und sagte: "Meinen Eltern geht es schlecht", der Rat unterbrach mit: "Das kann ich mir vorstellen". Eckhard Hieronymus setzte den Satz fort: "die Ungewissheit nach dem Schicksal meiner Brüder hat sie in hohem Maße verzehrt. Nun erschlägt sie die Nachricht eines ihrer Söhne."
"Wie meinen sie das, die Nachricht erschlägt ihre Eltern?", fragte der Rat in vorgehaltener Naivität. "Verstehen sie, Herr Konsistorialrat, meine Eltern sind am Ende ihrer Kräfte angekommen." "Aber ihre Eltern, Gott sei es gedankt, leben doch noch", begann der Rat sein Wortspiel. Eckhard Hieronymus, sah die Herausforderung, die er letzte Nacht im Bett kommen sah, "ich meine, die Eltern sind am Ende ihrer physischen Kräfte angekommen." "Ist es wirklich so?" "Es ist so schlimm, dass ich mir die ernstesten Sorgen mache." "Aber Gott behüte!" Da hörte Eckhard Hieronymus den falschen Engel sprechen, überhörte diesen Rufsatz, um durch ein Eingehen auf so einen Satz, der rhetorisch, aber kaum ehrlich gemeint war, nicht gleich zu Beginn des Gespräches ins Uferlose zu kommen. Er sah dem Konsistorialrat auf das Brustkeuz, das die kurzen fleischigen Finger weiter gefasst hielten und wie ein Stück Eisen drückten: "In Anbetracht der kritischen Lage um meine Eltern, die durch die Todesnachricht zutiefst getroffen, physisch am Boden sind, bitte ich um ihre Erlaubnis, meine Eltern in Breslau besuchen zu dürfen. Der Besuch hat umgehend zu erfolgen, wenn er nicht zu spät sein soll." Der Rat behielt die Schreibunterlage im Auge und sagte: "Herr Dorfbrunner, wollen Sie sagen, dass Sie am kommenden Samstag den Trauergottesdienst für Herrn Boschkewitz nicht halten wollen?" Eckhard Hieronymus nahm sich zusammen: "Herr Rat, von 'nicht wollen' kann hier nicht die Rede sein; das richtige Wort nach dem, was die Situation außergewöhnlich macht, wie ich Ihnen versuche, es wahrheitsgemäß zu schildern, ist 'nicht sollen', wenn Sie die kleine Richtigstellung mir erlauben."
Die erste Blässe zog auf das Ratsgesicht, ein erstes Zucken umfuhr seinen Mund. "Herr Dorfbrunner, Sie sagen, dass ihr Bruder, wie hieß er noch?" "Hans Matthias, Herr Konsistorialrat", "richtig, dass ihr Bruder Hans Matthias an der Front gefallen ist, an welcher Front, das wissen Sie nicht. Sie sagen auch, dass es ihren Eltern schlecht geht." "Jawohl Herr Konsistorialrat", fügte Eckhard Hieronymus ein, "meinen Eltern geht es gesundheitlich sehr schlecht." "Herr Dorfbrunner, ich erlaube mir zu sagen, dass mir noch keine Eltern begegnet sind, denen es nach dem Verlust des Sohnes nicht schlecht gegangen ist. Das zum einen. Zum andern erlaube ich mir zu sagen, Herr Dorfbrunner, dass Sie erst vor ein paar Tagen ihren Dienst als Pfarrer an der Elisabethkirche angetreten haben. Welche Reaktion erwarten Sie von mir und von der Gemeinde?" Die kurzen dicken Finger krampften um das metallne Brustkreuz. Er fuhr fort: "Ich hoffe, dass Sie mich verstehen: Den Tod ihres Bruders, so schrecklich er ist, können Sie weder objektiv, noch subjektiv vor sich oder ihren Eltern ungeschehen machen; an dieser Tatsache kommen Sie, wie Sie sich auch drehen mögen, nicht vorbei. Mit anderen Worten, Sie können ihren Bruder nicht lebendig machen; so groß sind Sie nun doch nicht." Eckhard Hieronymus krampfte sich der Magen, weil er diesen Satz als eine Unverschämtheit begriff. Er schaute auf das Krampfen der rätischen Kurz- oder Knüppelfinger um das metallne Brustkreuz. Nun begannen die Worte des Konsistorialrates zur Rede, und die Rede zu einem schwellenden Strom zu werden, der mitreißt, was sich ihm entgegenstellt. Wieder war es so, wie es bei dem ersten Vorstellungsgespräch war, der Konsistorialrat fühlte sich zum Reden, aber nicht zum Zuhören berufen, was die Sache mit seinen Eltern immens erschwerte. Für den Rat gab es kein Halten mehr, wenn er auch nicht begriffen haben konnte, oder nicht begreifen wollte, was das eigentliche Problem war, wo des Pudels Kern lag.
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