Und es lag in der Agonie einer kapitalistischen Krise. Damals stand die amerikanische Linke in einem breiten Konsens. Ihnen galt die russische Oktoberrevolution als das Aufbruchsfanal, als die Aufforderung, den Befreiungsauftrag aus den Menschenrechtserklärungen, aus der alten hochberühmten amerikanischen Rechtstradition weiter zu tragen, oder den Weg der russischen Revolution zumindest mit begeisterten Hochrufen zu begleiten. Helen Keller, keine Kommunistin, schrieb 1920:
»Amerika war Rußlands Freund während der langen Jahre, in denen dem russischen Volk jede Möglichkeit zu politischer Willenskundgebung verwehrt war. Ich glaube nicht, daß diese Sympathie in den Herzen der Amerikaner gestorben ist. Wir wollen immer noch Freunde und Brüder des russischen Volkes sein. Wenn wir in unserem Land eine aufgeklärte Presse hätten - eine Presse, die den Geist der Gründer dieser Nation atmet, den Geist von 1776 - gäbe es keine Blockade Russlands.« Helen Keller: Eine Forderung nach Anerkennung. Aufsatz in »The Call«, New York, 27. Februar 1920
In ähnlichem Sinne äußerten sich Theodore Dreiser, Maxwell Anderson, Dos Passos und andere; im Kongreß wurden der russischen Revolution gewidmete begeisternde Reden gehalten. Das sogenannte »Rote Jahrzehnt« der USA war angebrochen. Im Jahr seiner Ankunft in diesem Amerika fand Merker die Schreckensbilanz einer tiefgehenden Krisis vor. Die Zahl der Arbeitslosen belief sich im Oktober 1931 auf mehr als 7,7 Mio., im Oktober des folgenden Jahres wurde diese Marke noch überboten, um im Frühjahr 1933 mit 13 Mio. einen Rekord zu erreichen. Im März 1933 wurde der neue Präsident Franklin Delano Roosevelt in sein Amt eingeführt; er leitete Maßnahmen ein, die unter dem Begriff »New Deal« in die Zeitgeschichte eingingen. Das in unserem Zusammenhang hier wichtigste Element seiner neuen Politik war der Passus 7a des Gesetzes, der »National Industrial Recovery Act« (mit »Genesungsgesetz« notdürftig zu übersetzen), welches all den rechtlosen Proletariern das Koalitionsrecht einräumte, vielmehr einräumen wollte. Das Oberste Gericht der USA erklärte jedoch das Gesetz für verfassungswidrig; ein anderes, abgeschwächtes Gesetz wurde vom Kongreß schließlich doch erlassen, eine »Magna Charta der Arbeit«, die »National Labor Relations Act«. Diese Lage machte selbst den eingefleischtesten demokratischen Rechtswahrern klar, daß auf dem Weg über Kongreß und Senat jedes Gesetz an den ehernen Klippen des konservativen Obersten Gerichts scheitern werde, trotz allem Redegeplapper. Es mußte wohl anderes geschehen, eine Änderung des Systems erreicht werden. Im September 1932 gaben etwa fünfzig Kultur- und Geistessschaffende eine öffentliche Erklärung zu den bevorstehenden Bundeswahlen ab, die als pro-kommunistisch bezeichnet werden kann, da sich die Unterzeichner verpflichteten, nur die kommunistischen Kandidaten zu wählen, und überall im Lande »Foster-und Ford-Komitees« zu bilden. Wenn auch heute nur noch wenige Namen dieser Liste bekannt sein dürften, so läßt sich an ihr die Breite der Massenbewegung während der Depression ablesen. Die Adresse Amerika war also 1930 eine wichtige politische Position geworden. Earl Browder, hoher KP-Funktionär und während des Krieges Generalsekretär der »Communist Political Association«, sollte noch eine Rolle im Leben Merkers spielen.
In Amerika blieb Merker von 1931 bis 1933 als Kominternbeauftragter, Verbindungsmann zwischen der Zentrale und diesem plötzlich hochbedeutend gewordenen Außenposten der Revolution. Er lernte sich auf internationalem Raum zu bewegen, weitete seine Weltkenntnisse, machte Reisen und brachte, als er im Juni 1933 nach Moskau zurückgerufen wurde, aus den USA einige nachdenkliche Erfahrungen mit, vor allem vielleicht die, daß sich die Verhältnisse in diesem wichtigen Teil der nördlichen Welthälfte die Dinge völlig anders darstellten, als im sozialistisch-stalinistischem Moskau. Die amerikanische Partei war ungefähr zeitgleich mit der deutschen KP gegründet worden, 1920, aber sie stand aktuell vor anderen Problemen als das von der Revolution geschüttelte Deutschland mit einer in Sekten und Gruppen agierenden Linke. Merker war kein »Intelligenzler«, er stand unter dem Gefühl politischer Hörigkeit, dem jesuitischen Parteizwang, was ziemlich treffend als »Sowjetpsychose« bezeichnet wird, der spezifischen Erblindung gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen in Rußland. Und die zwanziger Jahre waren auch in Rußland noch offener und anders geprägt als das heraufkommende stalinistische Jahrzehnt mit seinen Verfolgungen und Massenmorden. Liest man die Ergebenheitsadressen von Funktionären und Belletristen an die siegreichen Bolschewiki jener Jahre, so wird man heute leicht ratlos. Was hatten die Rußlandreporter, die vielen Globetrotter von der russischen Revolution wirklich gesehen? Eine Erklärung für diese Schwäche der Wahrnehmung, der Blindheit liegt sicherlich zu einem guten Teil in der Kenntnis der Geschichte des zaristischen Rußland. Rußland galt als barbarisch rückständig, und alles, was den asiatischen brutalen Despotismus zu zertrümmern half, war in den Augen westlicher Zeitgenossen besser als das Fortbestehen der alten Ordnung des Zarismus, und jeder Übergriff und Eingriff in die Rechte der Person verzeihlich. Es gehörte zum revolutionären Dogma, dem Kopf, der im Namen des künftigen Menschheitsglückes für die Revolution fällt, als eine Übergangsschwäche im Namen des Fortschrittes zu verzeihen, und den Rechtsumständen nicht weiter nachzufragen. Für Amerika kam eine andere, die eigene Tradition hinzu. Die Kolonien hatten sich durch eine Revolution vom englischen Joch in einem Unabhängigkeitskrieg befreit, der folgende Krieg des Nordens gegen die sklavenhaltenden Südstaaten wurde als sittlich gerecht aufgefaßt, obschon er doch nicht von Beginn an um das hehre Ziel der Sklavenbefreiung geführt worden war. In dieser Befreiungsrolle sah sich das nördliche Amerika damals, und es hält sich auch heute für den irdischen Gehilfen Gottes beim gerechten Befreiungswerk, der globalen Amerikanisierung.
Der Pariser Commune von 1871 ward brennenden Herzens gedacht, und Lenin feierte den einen Tag, den die Oktoberrevolution länger gewährt hatte als diese, wie einen besonderen Sieg. Bis um die Jahrhundertwende wuchsen in allen europäischen Ländern die sozialdemokratischen Bünde, die kommunistischen Parteien und anarchistischen Sekten zu Millionenheeren an. Beschlüsse zur Erneuerung der Menschheit wurden periodisch gefaßt, ohne dass sich real etwas bewegt hatte. Nun aber war ein revolutionärer Staat erstanden, breitete die Arme aus, um die ganz Menschheit einzuschließen und all die Mühseligen und Beladenen aufzunehmen. Das ist eine Erklärung für die damals herrschende »Sowjetpsychose«, sie mag nicht alle überzeugen, zugegeben, aber sie ist besser als gar keine.
Einstweilen wohnte Merker wieder bei seinem Gönner, dem Genossen Losowski. Im Juni 1933 ist Merker 39 Jahre alt. Der Euphorie westeuropäischer und amerikanischer Intellektueller entsprach das reale Bild des Sowjetstaates zwischen 1930 und 1933 aber keineswegs. Was also hat Merker von der Sowjetunion gesehen? Wie beurteilte er die Machtkämpfe der späten zwanziger Jahre, hat er sie kritisch, hat er sie überhaupt wahrgenommen? Er stand in einem Alter und besaß politische Erfahrungen, die ihm eine Meinung zu den widersprüchlichen Vorgängen geradezu abfordern mußten. Die Übernahme der politischen Macht war das eine, und die Entwicklung der Wirtschaft eine andere Sache. Die »NEP«, die »Neue ökonomische Politik«, noch unter Lenin eingeleitet, war ein Anzeichen für den Rückzug auf den Staatskapitalismus. (Wir haben das Recht, stolz zu sein, und wir sind stolz darauf, daß uns das glückliche Los zugefallen ist, den Aufbau des Sowjetstaates zu beginnen, hiermit eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten, die in allen kapitalistischen Ländern unterdrückt ist und die überall zu neuem Leben, zum Sieg über die Bourgeoisie, zur Diktatur des Proletariats, zu Erlösung der Menschheit vom Joch des Kapitals, von den imperialistischen Kriegen vorwärtsschreitet. Lenin. Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Moskau 1947, Berlin 1954)
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