1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Die Jahre 1934 und 1935 waren politisch die bislang erfolgreichsten für Hitlerdeutschland; seit dem Sommer 1933 waren alle politischen Parteien aufgelöst. Eine zusammengefaßte Opposition gegen das Regime ließ sich nicht ausmachen. Die beiden großen Arbeiterparteien agierten im Ausland. Reichspräsident wurde der Führer im Todesjahr Hindenburgs, 1934, und zugleich Oberbefehlshaber der Reichswehr; 1935 brachte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, unter Bruch des Versailler Vertrages, von den beiden zerstrittenen europäischen Vertragsmächten England und Frankreich stillschweigend hingenommen. Die deutschen Länder waren »gleichgeschaltet«, so der offizielle Terminus. Der Parteitag 1935 beschloß die »Nürnberger Rassegesetze«; es gab weit und breit keinen ernst zu nehmenden politischen Gegner im Dritten Reich. Innenpolitisch war infolge des raschen Abbaus der Arbeitslosigkeit Zündstoff genommen; in Deutschlands Arbeiterklasse herrschten Erwartungen und Zukunftshoffnungen, Selbstbewußtsein und Optimismus. Und im Ausland? Die zahlreichen düsteren Berichte aus den K-Lagern entflohener fanden wenig Gehör; ein beruhigtes Deutschland schien den Garantiemächten nach den Jahren der Gärung und Instabilität leichter zu lenken.
In Frankreich lebten zahlreiche prominente Emigranten, wie der 1933 von seinem akademischen Amt unter Druck zurückgetretene Heinrich Mann. Es wimmelte von liberalen Intellektuellen der Linken wie der bürgerlich-radikalen Demokraten. Nur in Frankreich gab es auch eine wachsende Anzahl Sympathisanten, einmal des italienischen Faschismus, zum anderen des Nationalsozialismus. Der Putsch spanischer faschistisch-falangistischer Generäle gegen die spanische Republik der Volksfront zeigte an, wohin die Reise ging, in den europäischen Bürgerkrieg, der als unausweichlich empfundenen Auseinandersetzung der »Systeme«. Der in Spanien aufflammende Bürgerkrieg rief die Emigranten zu den Waffen; hier endlich bot sich die Gelegenheit zur politischen wie zur persönlichen Abrechnung mit den Nazis. Die spanischen Interbrigaden wurden zusammen mit den Truppen der spanischen Republik geschlagen; es war die zweite Niederlage der Linken innerhalb eines Jahrzehntes. Die Reste der aufgeriebenen Interbrigaden flüchteten über die Pyrenäen in die Internierungslager Frankreichs, und suchten jahrelang Aufnahmeländer.
Zwischen Walter Ulbricht und Heinrich Mann war es zu einem Zerwürfnis gekommen. Merker, der Ulbrichts Aufgaben übernommen hatte, gelang es auch, den berühmten Emigranten, einer der bedeutenden Figuren des intellektuellen Widerstandes zur weiteren Zusammenarbeit zu bewegen. Der Kriegsausbruch im September 1939, dem der Abschluß des Deutsch-Sowjetischen Paktes vorangegangen war, veränderte die politische Lage mit einem Schlage. Angesichts der historischen Bearbeitungsprodukte ist es für den zu spät geborenen kaum noch möglich, sich ein Bild von der tatsächlichen Lage des europäischen Durchschnittsbürgers von 1939 zu machen. Die schlimmsten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise waren allmählich beseitigt worden, unterschiedlich, je nach Region und Staat und entsprechend den traditionellen Lebensstandards. Es herrschten weithin Zukunftshoffnungen, und nicht nur in Deutschland. Selbst das am furchtbarsten gebeutelte Amerika begann sich wirtschaftlich zu erholen. Schlechte Zeiten für Katastrophenpropheten. Im Übrigen hatte sich der Lebensstandard verglichen mit dem Vorkriegsstand deutlich gehoben; die Staaten Hitlers und Mussolinis hatten allen etwas gebracht, der großen Mehrheit, die verbesserten sozialen Ausstattungen der jungen- oder Kleinfamilien, das bezahlbare Auto war in Sichtweite des sozialen Horizontes gerückt, die Touristenreise, damals von der Organisation »Kraft-durch-Freude« organisiert, kurz, der Hitlerstaat hatte eine Entwicklung vorweggenommen, das moderne, eigentlich unpolitische Leben, wie wir es heute durchgebildet beobachten erzeugt, falls wir vergleichen und vergessen wollen. (Sebastian Haffner spricht zwar davon, daß Hitler den Staat zerstört habe, er definiert aber nicht genauer, was er unter Staat versteht. Die angelsächsische Demokratie ist unpolitisch und pragmatisch, sie kommt ohne gesellschaftliche Visionen aus, ohne Utopien, sie braucht den Staat als Verwaltungsmaschine, nicht zur Entwicklung von gesellschaftlichen Ideen. Und es klang wie ein Seufzer der Erleichterung, als 1990 das Scheitern der kommunistischen Idee an der gesellschaftlichen Praxis die Überlegung initiierte, daß nun endlich das Zeitalter. ) XXX Unter diesen Umständen war es schwer, von außen auf die deutschen Verhältnisse einzuwirken.
Mit Kriegsausbruch und dem raschen Sieg der Wehrmacht über Frankreich trat für Merker eine entscheidende Wende ein: Anstatt beizeiten in die Sowjetunion zurückzukehren, blieb er. Zog er die Flucht in das unbesetzte Frankreich vor? Frankreich behielt infolge seiner Kapitulation das Hoheitsrecht südlich einer Demarkationslinie bis ans Mittelmeer. Ehe die Wehrmacht einen Fuß auf das Pariser Pflaster gesetzt hatte, begann also eine Massenflucht aller derjenigen die sich unter deutscher Besatzungsherrschaft nicht sicher fühlen durften, d. h., alle deutschen politischen Emigranten, aber auch eine bedeutende Anzahl aus Deutschland und Österreich nach Frankreich geflüchteter Juden. In der ersten Septemberwoche 1939 hatte die Regierung Frankreichs erste Schritte zur inneren Sicherheit unternommen und alle männlichen Emigranten aus Deutschland oder den von Deutschland inzwischen besetzten und annektierten Gebieten interniert, darunter die Leitung des Auslandsbüros der KPD, Paul Merker, Johannes Rau, Franz Dahlem, Siegfried Rädel, Heinz Renner und einige Frauen, wie Hilde Maddalena und Cläre Muth. Um 30 Tsd. wurden inhaftiert oder interniert. Ulbricht befand sich in Moskau; auch Anton Ackermann, der zusammen mit Merker und Dahlem in der Auslandsleitung in Paris zur Zeit des Deutsch-Sowjetischen Abkommens tätig war, hatte die NKWD-Schleuse genutzt, um in die Sowjetunion zu entkommen. Merker wartete in einem Internierungslager auf ein ungewisses Schicksal. Während des August 1939 hatten Briten und Franzosen mit Moskau ebenfalls über einen Militärpakt verhandelt. Den Westmächten war die Gefahr bewusst geworden, die ihnen von der Fortsetzung der Politik des Disappeasements gegenüber Hitlerdeutschland drohen könnte.
Die Gebietsansprüche Hitlers waren bislang von den Vertragsmächten nach einiger Ziererei akzeptiert worden; selbst die Besetzung und den Anschluß Österreichs an das Reich, bei dem es nicht mit rechten Dingen zugegangen war, hatten weder eine protestierende Demarche, noch irgendeine Gegenaktion zur Folge gehabt. Mit dem Abschluß des »Müncheners Abkommens« glaubte der britische Premier gar ein Friedenszeichen gesetzt zu haben. Selbst die Besetzung der Resttschechoslowakei, unter dramatischen Begleitumständen erpresst, löste keine Gegenmaßnahme aus. Blieb die Danzigfrage, als unwiderruflich letzter Anspruch des Reiches.
Die »Völkerbundstadt« Danzig, die zwar schon längst nationalsozialistisch regiert wurde, aber Mandatsgebiet mit einem Völkerbundkommissar als Aufseher geblieben war, sowie einer Reihe von polnischen Hoheitsrechten auf dem Gebiet der Stadt und dem Hafen, sollte nun endlich durch ein Sonderabkommen zwischen dem Westen und Polen vor einer Annektion bewahrt bleiben. Allein im August 1939 war alles noch in der Schwebe. Mit Spannung beobachteten die Emigranten, zumal das Auslandsbüro der Kommunistischen Partei in Paris, die Entwicklung; praktisch verhandelte jeder mit jedem. Ging die eine Delegation, betrat die andere den Versammlungsraum; von Moskau schien wieder einmal das europäische weit abhängig zu sein. Daß die beiden großen europäischen Westmächte überhaupt eine Annäherung an die Sowjetunion in Erwägung zogen, daß ein Bündnis mit dem Sowjetstaat, der vor zwei Jahrzehnten erbarmungslos bekämpft wurde, denkbar geworden war, zeigte an, was die Stunde geschlagen hatte. In diesem Falle wurde lange verhandelt, dieses Mal waren es die Russen, denen in der Diplomatie die langsamste Gangart nachgesagt wird, die auf einen schnellen Abschluß drängten. Im Übrigen lag der Entwurf eines langfristigen Handelsabkommen mit Deutschland auf dem Tisch.
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