1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 „Li hat es mir erzählt, nachdem er gegangen war. Sie hat gesagt, dass er nicht mit ihr geschlafen, aber trotzdem bezahlt hat. Für Li war ich so etwas wie eine Vertraute. Aber wenn Peter ihr nicht geholfen hätte…“, sie senkte den Kopf, „ich hatte auch schon einen Plan, obwohl es für uns beide sehr gefährlich gewesen wäre.“ Man sah ihr an, dass es nicht leicht für sie war, darüber zu sprechen. Jetzt wandte sie sich an Peter:
„Li hat einen Brief für dich hinterlassen“, sie sah Johann argwöhnisch an, „die Polizei hat ihn.“ Peter wandte sich an den Freundlicheren der beiden.
„Kann ich ihn jetzt sehen?“
„Der Brief wird gerade überprüft. Sie können ihn dann bestimmt haben. Doch das wird bis morgen dauern“, bekam er als Antwort. Peter war sehr aufgewühlt. Er machte sich schon die ganze Zeit Gedanken darüber, was sie wohl geschrieben hatte. Sie würde ihn doch nicht irgendwie belasten? Schließlich kannte er sie ja gar nicht. Instinktiv spürte er, dass er nichts zu befürchten hatte. Er atmete tief durch. Die Polizisten fragten noch nach einigen Details und eine Stunde später waren Beatrice und Peter wieder auf der Straße. Beatrice blieb stehen und zog Peter am Ärmel. Sie wirkte zerbrechlich und sah aus, als würde sie jeden Moment kollabieren. „Warte, bitte. Ich möchte dir noch etwas sagen.“
Peter blieb stehen. Er kam sich irgendwie seltsam vor, wusste er doch, dass er vor einer „Professionellen“ stand. Er musste dauernd daran denken, was sie für einen Beruf ausübte. Irgendwie war sie für ihn keine normale Frau. Er verachtete sie nicht dafür, aber er konnte auch nicht wirklich Respekt für sie empfinden.
„Was?“ fragte er kurz angebunden.
„Li sagte mir, dass du ihr helfen wirst. Und dass sie dich überall hinbegleiten wird. Sie meinte, du bist ihr Freund, und sie hatte noch nie einen Freund. Ich habe nicht ganz verstanden, was sie damit meinte. Ich verstehe auch nicht, warum sie sich umgebracht hat, wo sie doch so sehr daran glaubte, dass du ihr hilfst. Ich verstehe es einfach nicht, sie war so jung, so wunderschön, ich habe sie sehr gemocht…“ Beatrice wischte eine Träne weg.
„In letzter Zeit war es nicht mehr auszuhalten in unserem Haus. Mario war ständig betrunken und hat uns gequält. Mich weniger, er brauchte mich,“ sie spukte auf den Boden, „aber Li hat er ständig geschlagen, denn sie tat nicht immer, was er ihr befohlen hatte. Außerdem spielte sie ihren Kunden nicht die lustvolle Dirne vor, das konnte sie nicht. Einige Freier hatten sich beim Chef über sie beschwert. Dafür musste sie büßen. Aber sie hat immer nur still geweint. Sie hat sich nicht beschwert. Nie.“
Beatrice konnte nicht weitersprechen. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals. Sie dachte an das kleine Mädchen, und sie konnte sich gut in ihre Lage versetzen. Es war schrecklich. Gott sei Dank war Mario weg. Er war untergetaucht. Aber er konnte auch jederzeit wieder zurückkommen. Peter wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Eine Weile schwiegen beide. Beatrice betrachtete intensiv ihre Schuhspitzen.
„Und was wird jetzt aus dir?“, fragte er zögerlich und war tatsächlich an der Antwort interessiert. Beatrice schaute ihn an und zuckte die Achseln.
„Keine Ahnung. Ich mache mir eher Sorgen um meine sechs Kolleginnen. Keine hat eine eigene Wohnung oder sonst eine Unterkunft und keine Ausbildung. Das Haus gehört Mario. Er wird sicher wieder bei uns auftauchen. Also müssen wir weg. Mir wird schon etwas einfallen.“ Peter nickte.
„Jetzt müssen wir noch hierbleiben, um der Polizei für Fragen zur Verfügung zu stehen. Dann wird sich schon etwas ergeben.“ Sie wirkte stark und zerbrechlich zugleich. Peter wollte gehen. Er wollte nach Hause.
„Ich wünsche dir alles Gute“, was anderes fiel ihm nicht ein. Beatrice reichte ihm die Hand.
„Ich danke dir“, sagte sie und lächelte ihn an.
„Wofür?“, fragte Peter irritiert.
„Dafür, dass du Respekt vor einer Hure gezeigt hast. Jeder andere hätte Li benutzt und noch mehr gedemütigt. Du hast ihr – wenigstens für ein paar Stunden – Hoffnung gegeben und ihr gezeigt, dass nicht alle Männer, die zu uns kommen, Schweine sind.“
„Es tut mir so leid, dass ich zu spät gekommen bin. Ich hätte ihr so gerne geholfen. Sie war ein Kind.“
Beatrice dreht sich um, wankte ein wenig, und schritt erhobenen Hauptes in Richtung U-Bahn. Peter seufzte noch einmal und ging in die entgegengesetzte Richtung. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Es war so ungerecht! Wie war Li da hineingerutscht? Rasch sah er sich um. Beatrice war noch in Sichtweite. Er rannte ihr nach.
„Warte“, doch sie drehte sich nicht um. Noch lauter rief er: „Beatrice, warte, bitte.“
Sie blieb stehen. Peter hatte sie nach einer Weile eingeholt. Er trat vor sie hin. Beatrice ließ den Kopf gesenkt. Erst als er sie ansprach, hob sie ihn und schaute ihm ins Gesicht. Ihre Augen waren rotgeweint, und noch immer rannen ihre Tränen haltlos über ihr hübsches Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, sie wegzuwischen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Es waren einfach zu viele. Peter stand etwas hilflos neben ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Dann kramte er ein zerknittertes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Er hielt es ihr wortlos hin. Beatrice griff danach und schnäuzte kräftig hinein. Sie schluchzte noch immer. Peter legte ihr eine Hand auf die Schulter. Eine Weile standen sie so da. Leute gingen vorbei und warfen einen verstohlenen Blick auf das Paar, fragten sie sich wohl, warum die Frau so sehr weinte. Peter fing einen strafenden Blick einer alten Frau auf. Vermutlich meinte sie, er wäre schuld an ihrem Elend. Peter wollte nicht mehr länger ein Blickfang für die vorbeieilenden Passanten sein.
„Es gibt ein nettes Lokal hier in der Nähe, darf ich dich auf einen Kaffee einladen? Ich möchte dich etwas fragen“, schlug er deshalb vor. Beatrice sah ihn verwundert an. Sie hörte plötzlich auf zu schluchzen. Ein Anflug eines Lächelns erhellte für einen Augenblick ihr Gesicht. Sie überlegte kurz und war sich sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben eine Einladung von einem Mann bekommen hatte, der nichts von ihr wollte. Doch dann sah sie ihn noch einmal misstrauisch an. Oder wollten sie das nicht alle? Nein, dieser hier war anders. Sie nickte. Sie gingen schweigend nebeneinander. Peter fühlte sich etwas hilflos, weil sie noch immer von Zeit zu Zeit schnäuzte. Doch dann hielt er die Stille nicht mehr aus.
„Warum hat Li so gut deutsch sprechen können, wenn sie erst ein paar Wochen hier war?“, wollte er wissen.
„Es wundert mich, dass mich das die Polizei nicht gefragt hat“, sagte sie und lachte etwas abfällig, denn sie musste an Johann denken, der offensichtlich an etwas anderes dachte, als daran, sie zu verhören. In Beatrices Inneren wurde es ganz kalt. Sie spürte, wie etwas erstarrte. Dieses Gefühl kannte sie gut.
„Und?“ Peter war neugierig.
„Mario hat viele Freunde. Ihr habt keine Ahnung, wie dieses Geschäft läuft.“ Wieder lachte sie höhnisch. Peter erschauerte.
„Einige der netten Jungs sind darauf spezialisiert junge Mädchen auf den Markt zu bringen. Asiatinnen und Russinnen sind besonders gefragt. Das Ganze läuft nach einem bestimmten Schema ab.“
Sie waren jetzt beim Lokal angekommen. Beatrice unterbrach ihre Erzählungen und wartete, bis sie an einem Tisch beim Fenster Platz genommen hatten. Geschäftsleute und Studenten waren hier Stammgäste. Man konnte auch gut und günstig essen. Peter kam manchmal hier her, wenn er in der Nähe war. Er fühlte sich wohl hier. Meistens saß er und las in einer der vielen Zeitungen oder Zeitschriften, die sich auf einem großen Tisch in der Mitte des Raumes stapelten. Das war mitunter ein Grund dafür, dass Peter dieses Lokal mochte. Es interessierte ihn sehr, was andere Zeitungen schrieben. Er selbst war zuständig für den Lokalteil von einer der größten Zeitungen der Stadt. Seit etwa fünf Jahren leitete er seine Abteilung und war damals der jüngste Chef in dieser Branche. Doch Peter war nicht zufrieden. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es nur wenig Positives zu Schreiben gab. Der Großteil handelte von Raub, Mord- und Totschlag oder Skandalen. Peter schüttelte den Kopf. Darüber wollte er jetzt gar nicht nachdenken. Er fragte sein Gegenüber, was sie gerne trinken möchte und bestellte zwei Cola.
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