Er drehte sich kurz um, lächelte den Milchschäumer an, setzte sich an den Tisch und schlug die Zeitung auf. Irgendetwas war mit ihm passiert, stellte er fest. Er hatte plötzlich nicht mehr den Zwang, alles sauber und ordentlich zu halten. Er wusste, dass es eine psychische Zwangsstörung gewesen war. Egal. Es gab Wichtigeres. Eine Stunde später rief er seine Schwester erneut ein. Es war jetzt zehn. Noch immer meldete sich niemand. Er wurde zunehmend ungeduldiger. Peter fluchte und schlug die Zeitung zu. Beim Blick zur Spüle überkam ihn ein Gefühl der Abneigung. Er hatte keine Lust abzuwaschen, sollte doch dieses blöde Geschirr noch etwas warten und der ganze Dreck eintrocknen! Wieder tippte er die Nummer seiner Schwester und diesmal meldete sie sich: „Hallo Peter. Ich wollte dich gerade anrufen.“
„Hallo. Und? Hat dein Mann etwas erreichen können?“
Klara wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie hasste diesen Anruf. Eigentlich hatte sie das Telefon schon vor einer Stunde gehört. Doch sie wollte das Gespräch noch ein wenig hinausschieben. Aber nun musste sie es ihm wohl oder übel erzählen.
„Hör mal, Peter. Magst du nicht bei uns vorbeikommen?“, versuchte sie ihn zu überreden. Von Angesicht zu Angesicht sprach es sich einfach leichter als am Telefon. Er stieg nicht darauf ein.
„Warum soll ich vorbeikommen? Du willst bestimmt den Tag mit Theo verbringen und nicht mit mir. Was ist mit Li? Sag schon“, drängte er ungehalten. Klara versuchte es noch einmal.
„Aber du könntest doch mit uns essen. Ich habe genug eingekauft für das Mittagessen.“ Peter kapierte nun, dass sie ihm auswich. Es entstand eine Pause.
„Sie sind zu spät gekommen?“, Peter ahnte Schreckliches.
„Ja, es tut mir leid.“
„Sie war ein Kind“, sagte er, „und Klara. Ich hatte wirklich nichts mit ihr, das musst du mir glauben. Ich weiß nicht einmal, was ich dort wollte. Ich bin noch nie in ein Puff gegangen, ehrlich. Ich hätte mich immer dafür geschämt. Keine Ahnung, warum es so gekommen ist.“ Er raufte sich die Haare mit der rechten Hand, mit der linken hielt er krampfhaft das Handy an sein Ohr.
„Ich glaube dir, Peter. Aber es gibt noch etwas.“ Sie hielt die Luft an. „Was?“, wollte er wissen.
„Li hat einen Brief geschrieben. Er steckt in einem Umschlag, darauf steht „Peter“. Ich habe der Polizei noch nichts von dir erzählt. Aber ich glaube, er gilt dir.“
Peter war irritiert. Was konnte Li ihm denn schon geschrieben haben?
„Das heißt, ich müsste mit der Polizei reden, um diesen Brief zu bekommen?“, folgerte er richtig.
„Ich habe mich aber nicht strafbar gemacht, oder? Mit Li habe ich nicht geschlafen und mit sonst auch keiner“, betonte er.
„Wenn du diesen Brief haben willst, musst du dir aber bestimmt ein paar unangenehme Fragen stellen lassen. Mehr kann ich nicht für dich tun. Theo hat gesagt, dass dir nichts passieren kann.“ Peter überlegte eine Weile.
„Und was soll ich jetzt tun? Wie geht es weiter?“, fragte er.
Klara spürte, wie sich ihr Herz öffnete. Sie hatte jahrelang keine gute Beziehung zu ihrem Bruder gehabt. Er war immer griesgrämig und redete nicht viel. Nun merkte sie, wie bedürftig er war und dass sie ihm helfen konnte, damit er sich besser fühlte. Sie wusste nicht einmal, ob er Freunde hatte, die ihm beistehen konnten.
„Komm doch einfach vorbei. Theo weiß, wo die Polizei den Brief hat und wo du dich melden kannst. Mach schon. Es ist nicht weit. Dann bist du auch nicht allein.“ Normalerweise hätte ihn so ein rührseliges Getue auf die Palme gebracht. Doch er merkte, dass er jetzt wirklich nicht allein sein wollte. Dankbar nahm er an.
Keiner der Polizisten sah auf, als Peter den Raum betrat. Jeder saß an seinem Schreibtisch. Einer telefonierte, der andere aß seine Jause und studierte einen Bericht und der Dritte unterhielt sich mit einem Zivilisten. Eine Tür öffnete sich und ein weiterer Polizist betrat den Raum. Durch den Spalt sah Peter eine Frau sitzen. Sie kam ihm bekannt vor. Blass, dünn. Beatrice? Die Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte? Ihre Haare trug sie offen. In jener Nacht hatte sie sie kunstvoll hochgesteckt. Jetzt trug sie einen Rollkragenpullover. In jener Nacht ein Negligée.
Vielleicht war sie es auch gar nicht.
Ein Polizist kam auf Peter zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er freundlich aber distanziert. „Ich, ähm. Ich bin Peter“, war alles, was ihm auf Anhieb über die Lippen kam. Er überreichte dem Polizisten ein Schreiben, das sein Schwager für ihn aufgesetzt hatte. Darin erklärte Theo, dass Peter sein Mandant war und dass die Polizei Peter den Brief der Verstorbenen aushändigen sollten. Der Polizist las den Brief sorgfältig und sah Peter dann abfällig an. Peter wusste, was er dachte: Kinderschänder!
„Ich habe dazu aber Einiges zu sagen“, versuchte Peter sich gleich zu verteidigen.
„Warten Sie hier einen Augenblick. Dann werden Sie schon noch reichlich die Gelegenheit dazu haben.“ Peter war etwas mulmig zumute. Der Polizist, der zuvor aus dem Raum gekommen war, in dem die Frau saß, ging nun wieder hinein. Peter versuchte noch einmal einen Blick auf sie zu werfen. Aber er sah sie nicht, weil der Körper des Polizisten die Sicht ins Innere des Raumes versperrte. Aber nach einer Weile wurde auch Peter in dieses Zimmer geführt. Diese Frau sah ihn beim Eintreten an. Aber Peter war sich nun nicht mehr sicher. Sie schien noch viel dünner zu sein, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Der schwarze Rollkragenpullover machte sie noch blasser. Aber sie schien ihn zu erkennen und nickte ihm fast unmerklich zu. Es war Beatrice. Unfreundlich forderte man Peter auf, Platz zu nehmen. Doch immer wieder bestärkte er sich in seinen Gefühlen, dass er nichts Schlimmes getan hatte. Er musste sich für nichts schämen.
„Woher haben Sie Li gekannt?“ fragte der eine Polizist. Peter konnte diese dumme Frage kaum glauben. Er schluckte seinen Ärger hinunter.
„Ich war in der Nacht von Freitag auf Samstag im Bordell „La Nuit“. Madame Beatrice hat mir die Tür geöffnet und Li vorgestellt. Ich bin mit ihr aufs Zimmer gegangen. Doch es ist nichts passiert. Ich schwöre bei meinem Leben“, berichtete er wahrheitsgetreu. Der dickere der beiden Polizisten lachte dreckig.
„Erzählen Sie das Ihrer Großmutter! Warum waren Sie sonst dort. Um eine Gute-Nacht-Geschichte zu hören?“ Peter war bewusst, dass sich seine Aussage realitätsfremd anhörte, aber er ließ sich nicht gerne verarschen und betonte umso eindringlicher:
„Nein. Ich hatte keinen Geschlechtsverkehr mit Li. Ich habe sie gesehen und mir fiel auf, dass sie sehr traurig und vermutlich nicht volljährig war. Und da ich das erste Mal in meinem Leben in einem Puff war, und ich nicht wusste, was mich erwartete, verging mir auch schnell die Lust. Ich habe versprochen, ihr zu helfen“, sagte er. Jetzt lachte der andere.
„Wolltest ihr wohl noch etwas beibringen, der Kleinen, nicht? War das deine Art von Hilfe?“ Peter lief rot an vor Zorn. Da fiel ihnen Beatrice ins Wort.
„Es ist wahr, was er sagt“, meinte sie.
„Rede nur, wenn du gefragt wirst, Nutte!“ Es war Johann, der so mit ihr redete. Er hatte ihr „mildernde Umstände“ versprochen, wenn sie ein bisschen mit ihm „zusammenarbeitete“, wie er es nannte. Doch nachdem Beatrice eine Lizenz und nichts mit dem Tod ihrer Kollegin zu tun hatte, ließ sie ihn kaltblütig abblitzen, was Johann ihr nicht verzieh. Doch das war Beatrice egal. Da war sie Schlimmeres gewohnt. Peter wurde heiß, bei diesen Worten. Er mochte die beiden Polizisten nicht! Aber der andere schien sich doch für das zu interessieren, was Beatrice zu sagen hatte:
„Woher weißt du das?“ Sein Ton war nicht unfreundlich.
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