„Aber sie wissen nicht, wie du dir dein Geld verdienst?“ Li schüttelte heftig den Kopf.
„Nein. Ich beschmutze nicht Ehre von meiner Familie.“ Peter verstand das nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es der Familie Ehre brachte, dass sie eine Nutte war. Oder meinte sie, dass sie nichts davon wussten.
„Soll ich dich da herausholen?“ Li sah ihn erschrocken an.
„Die werden Li töten. Ich kann nicht weg.“
„Wenn ich die Polizei einschalte?“ Li sah ihn schweigend an.
„Wie alt bist du wirklich?“
„Ich zähle fünfzehn“, sagte sie kleinlaut.
„Möchtest du wieder nach Hause zu deiner Familie?“ Li nickte.
„Wer hat dir versprochen, dass es dir hier in Europa besser geht?“
„Waren ein paar Männer in meiner Stadt. Haben gesprochen von guter Arbeit, viel Lohn, gute Ausbildung. Meine Eltern haben mich geschickt. Haben viel Geld für mich bekommen. Aber meine Mutter viel geweint, weil ich weg bin.“ Li schmiegte sich plötzlich an seine Brust und umarmte ihn. Sie fing laut an zu schluchzen. Peter streichelte ihr über den Rücken. Das hier war ein Kind. Wer konnte so etwas nur tun? Er hasste sie alle. Wieder fiel ihm der schwitzende Dicke ein. Hass stieg in ihm hoch. Es wurde ihm übel. Wie konnte so etwas sein. Auch Peter spürte plötzlich, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er würde ihr helfen. Ganz bestimmt!
Kein schwitzender Fettsack würde sich mehr über Li stürzen und ihr die Seele rauben. Er wusste nicht wie, aber er würde ihr helfen. So wahr ihm Gott helfe!
Peter wusste nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Er hatte die Haustüre aufgeschlossen und stand vor seiner Couch. Er fühlte sich wie ein wildes Tier im Käfig und fing an, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Es war bereits nach vier Uhr morgens und es schien ihm unmöglich, nun ins Bett zu gehen und zu schlafen. Zu sehr hatte ihn dieser Besuch im Freudenhaus aufgewühlt. Irgendwie bereute er den Besuch, denn nun hatte er sich ein Problem mehr aufgehalst. Peter musste etwas unternehmen! Während er versuchte zu denken, wanderte er weiter auf und ab. Ihm wollte einfach nichts einfallen. Schließlich wusste er aus schlechten Krimis – aber auch aus Zeitungen – dass mit Menschen in diesem Milieu nicht zu spaßen war. Es sich mit ihnen anzulegen, war alles andere als schlau. Peter hatte Angst. Er hoffte, dass ihn dort niemand erkannt hatte, denn das könnte ihm schließlich auch zum Verhängnis werden.
Aber er konnte doch nicht einfach zur Polizei gehen und sagen, dass er in einem Puff eine Minderjährige gesehen hatte. Freier waren vermutlich nicht die beliebtesten und vertrauensvollsten Leute, und schon gar keine Freunde der Polizei. Auch wenn er sich anonym meldete und darum bat, Li herauszuholen, war noch lange nicht gewährleistet, dass sie zu ihrer Familie in Vietnam zurückkehren konnte. Er hatte keine Ahnung, ob er nicht selbst in Schwierigkeiten geraten könnte. Wie sollte er das bloß anstellen? Gegen sechs Uhr morgens fiel er in einen unruhigen Schlaf. Um neun Uhr weckte ihn sein Telefon. Es war seine Schwester Klara. Klara war für ihn schon von Kindesbeinen an eine Nervensäge. Sie hatte eine schrille Stimme und rief ihn nur an, wenn sie etwas brauchte. Er verdrehte die Augen und hob ab, da er wusste, dass sie es ohnehin in drei Minuten erneut probieren würde, wenn er sich nicht meldete.
„Hallo.“ Er bemühte sich um eine neutrale Stimme.
„Hallo, Bruderherz“, flötete sie ins Telefon.
Peter seufzte: „Was brauchst du?“
Klara, war das genaue Gegenteil von Peter, denn sie war klein, etwas mollig und eher blond. Außerdem hatte sie die blauen Augen, die sich Peter wünschte. Sie war zwei Jahre jünger als er und es schien, als hätte sie die Sonnenseite des Lebens gepachtet. Alles was sie anpackte, gelang ihr auf Anhieb. Außerdem hatte sie ihre große Liebe geheiratet und hatte einen guten Job. Ihre Kollegen schätzen sie sehr und Klara hatte so viele Freunde, dass man sie an beiden Händen nicht mehr abzählen konnte. Aus diesen Gründen war Peter oft sehr eifersüchtig auf seine kleine Schwester und er fand das Leben ungerecht. Aber vielleicht lag es auch an ihrem Lächeln, an ihrem Charme und ihrer guten Laune, die sie ständig ausstrahlte.
Warum gelang ihr nur alles so gut?, ging es Peter durch den Kopf, während er versuchte herauszubekommen, warum sie ihn angerufen hatte. Mit gespielter Gekränktheit sagte sie:
„Aber ich rufe dich doch nicht nur an, wenn ich etwas brauche.“ Peter wollte keine Spielchen spielen: „Nun sag schon.“
„Nein. Ich…“, sie zögerte, „ich hatte ein seltsames Gefühl. Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht.“
„Ehrlich?“, fragte er erstaunt.
„Ja. Ich habe schlecht geträumt. Ich dachte, du wärst in Schwierigkeiten.“ In ihrer Stimme lag tatsächlich so etwas wie Sorge.
Peter sagte nichts.
„Ist alles in Ordnung?“
Peter konnte nicht „Ja“ sagen, wollte ihr aber auch nicht erzählen, in welchem Dilemma er steckte.
„Warum sagst du nichts?“
„Äh. Nein, nein. Es ist alles in Ordnung.“ Es klang nicht sehr glaubwürdig. Es entstand eine kurze, unangenehme Pause.
„Peter! Ich weiß, dass du mich noch nie für voll genommen hast. Ich weiß, dass du oft eifersüchtig auf mich bist. Ich war wohl das Nesthäkchen und ein wenig verwöhnt von unseren Eltern. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst. Ich… Ich würde alles für dich tun.“ Ihre Stimme klang gerührt. Peter saß mit offenem Mund im Bett. War es Zufall, dass sie genau heute anrief? Andererseits ging es ihm seit Jahren nicht gut. Er kam sich oft vor wie ein alter griesgrämiger Mann, der sein Leben schon fast hinter sich hatte, obwohl er erst sechsunddreißig Jahre alt war.
„Ich danke dir.“ Peter musste sogar lächeln. Er war gerührt.
„So etwas Schönes habe ich schon lange nicht mehr gehört“, fügte er ehrlich hinzu, nachdem sie nichts sagte. Klara lächelte auch. Aber sie lächelte sowieso fast immer.
Li lag zusammengekauert auf ihrem Bett und weinte. Der schwitzende Fettsack, dessen schwerer Atem nach Alkohol und Zigarren stank, schloss gerade die Tür hinter sich und ließ sie allein auf dem Bett zurück. Li sprang auf und rannte zum Waschbecken. Sie musste sich übergeben. Dicke Tränen rannen über ihr hübsches Gesicht. Sie hasste alles. Sie hasste sich, ihren Körper. Ihr Unterleib brannte. Sie war nicht bereit gewesen für einen Liebesdienst, doch das war dem Dicken egal. Mit Gewalt drang er in sie ein. Es hatte ihr schrecklich weh getan. Am linken Oberschenkel klebte etwas Blut, vermischt mit Sperma.
Li schrie hysterisch auf. Sie nahm ein Handtuch, machte es nass und fing an, unkoordiniert an ihrem Körper herumzuschrubben. Sie schluchzte, hielt sich am Waschbecken fest und sank dann zu Boden. Plötzlich klopfte es an der Tür. Erschrocken hob Li den Kopf. Sie antwortete nicht. Dann hörte sie Beatrices Stimme.
„Li, neue Kundschaft ist da. Bist du schon fertig?“
Li erstarrte.
Sie saß nackt auf dem kalten Boden und erst jetzt merkte sie, wie sie zitterte. Automatisch antwortete sie: „Zehn Minuten, bitte.“ Sie rappelte sich auf und blickte in den Spiegel. Eine wunderschöne junge Frau sah ihr in die Augen. Aber sie waren leer und traurig. Li hatte ihre Seele verloren.
Peter bittet Klara um Hilfe
Es war schon Mittag, als sich Peter auf den Weg machte, um zu dem Freudenhaus zu gehen, das er in der Nacht besucht hatte. Eine Gasse davor blieb er stehen. Was machte er bloß hier? Er konnte doch nicht einfach hineinmarschieren, Li bei der Hand nehmen und sagen, dass er sie mitnehmen und zu ihrer Familie zurückbringen wollte. Die würden ihn umgehend ermorden, oder zumindest zusammenschlagen. Aber Li ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war ein Kind. Jemand musste doch helfen!
Читать дальше