Als Kurt einen Blick zur Küchentür warf, sah er, dass diese sich bewegte. Jemand schien die Landarbeiter und ihre Familien zu beobachten. Heinrich hatte es offenbar ebenfalls bemerkt und sah seinen Vater an. Als Kurt Bremer erneut zur Tür blickte, war sie geschlossen. Vielleicht hatten sie einfach zu laut gesungen, und jemand hatte sie zugemacht. Im nächsten Moment hatte er den Vorfall schon wieder vergessen. Gustl Joosts Frau Elfriede hatte gemeinsam mit zwei anderen Landarbeiterfrauen das Weihnachtsessen zubereitet. Fritz Heckner hatte eine eigene Fasanenjagd, und so konnte der ganze Hof zu Heiligabend mit dem Geflügel versorgt werden. Elfriede Joost hatte einen großen Topf Rotkohl gekocht, dazu Kartoffeln und Sauce. Kurt Bremer aß, wie er noch nie in seinem Leben gegessen hatte, und sein Sohn tat es ihm gleich.
„Dir wird gleich der Bauch platzen, wenn du noch mehr futterst.“
Lachend wuschelte er Heinrich durchs Haar.
„Ach, Vati, lass mich doch!“
Plötzlich stand er auf und rannte zur Tür, während er sich würgend den Mund zuhielt. Kurt Bremer konnte aus dem Fenster der Gutsküche erkennen, wie sein Sohn in Richtung Plumpsklo rannte. Schade um das schöne Essen, dachte er bei sich. Mittlerweile war die Stimmung in der Küche auf dem Höhepunkt. Man hatte von getragenen Weihnachtsliedern zu fröhlichen Wanderliedern gewechselt. Einer der Landarbeiter besaß eine Fiedel und begleitete den Chor mit kratzenden, schrägen Tönen. Plötzlich hörten sie draußen einen lauten, langanhaltenden Schrei. Heinrich! dachte Bremer und stürzte hinaus zum Plumpsklo. Er fand seinen Sohn verzweifelt schluchzend und zusammengekauert vor der hölzernen Tür des Örtchens. Kurt Bremer umschlang ihn mit seinen Armen und hielt ihn fest, doch der Junge konnte sich lange nicht beruhigen.
„Mein Auto, mein Auto!“ schluchzte er immer wieder.
„Was ist passiert?“
Langsam beruhigte sich der Junge.
„Es ist mir ins Plumpsklo gefallen.“ Traurig senkte er den Kopf.
„Wie kann denn so etwas passieren?“
„Es ist mir aus der Hosentasche gerutscht.“
Irgendetwas schien den Jungen zu bedrücken, denn er sah seinem Vater nicht in die Augen.
„Du hättest besser aufpassen müssen“, erwiderte Bremer strenger, als er eigentlich wollte, „nun hast du eben keines mehr. Die Herrschaft wird dir sicher kein neues kaufen.“
Heinrich nickte, den Kopf noch immer gesenkt.
„Na komm, lass uns wieder in die Küche gehen! Du holst dir ja den Tod in dieser Kälte.“
Er legte den Arm um Heinrichs Schultern und dirigierte ihn zurück zur Gutsküche. Aus den Augenwinkeln sah er Rüdiger hämisch grinsend an der Haustür lehnen. Er blieb stehen und sah ihn ernst an, woraufhin der Sohn des Gutsherren sich umdrehte und im Herrenhaus verschwand. Kurt Bremer begriff, dass sein Sohn ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte.
Sonntag, 13. Mai 2018
Gaby und ihr Kollege Max Kaltofen schlugen fast gleichzeitig die Türen des Dienstfahrzeugs zu, mit dem sie zum Petritorwall gefahren waren. Der Todeszeitpunkt von Wolfgang Bredel war inzwischen auf Himmelfahrt zwischen elf und dreizehn Uhr festgelegt worden. Sie klingelte im Erdgeschoss von Haus Nummer Dreizehn. Durch die Gegensprechanlage hörten sie die heisere Stimme einer älteren Frau.
„Kriminalpolizei Braunschweig, mein Name ist Hauptkommissarin Gaby Brandt. Wir möchten Sie zu Ihrem Nachbarn Herrn Bredel befragen. Würden Sie bitte die Tür öffnen?“
Sie hörten ein Summen und drückten gegen die schwere, geschnitzte Tür aus Nussbaumholz, die sich daraufhin öffnete. Sie stiegen einige Stufen hinauf, um zu der Etagenwohnung im Erdgeschoss zu gelangen. In der Wohnungstür stand eine ältere Frau, Gaby schätzte ihr Alter auf Anfang bis Mitte Siebzig. Sie hatte große Lockenwickler in den Haaren und trug einen weißen Morgenmantel aus Frottee.
„Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung“, begann sie, „das ist mein Kollege Kommissar Max Kaltofen. Gestatten Sie, dass wir einen Moment hereinkom-men?“
Wortlos ging die Frau beiseite und ließ die Ermittler eintreten. Sie führte sie in das geräumige Wohnzimmer, das von der Einteilung dem Wolfgang Bredels ähnelte. Auch die Einrichtung unterschied sich kaum von der des Opfers. Überall standen antike Möbel und Kinkerlitzchen herum. Das Zimmer war rechteckig und hatte an der Seite zur Straße drei hohe, oben gebogene Fenster. An den Rahmen befestigte Scheibengardinen verhinderten allzu neugierige Blicke von außen. Die Fensterbänke waren völlig mit großen und kleinen Blumentöpfen bedeckt, in denen eine Vielzahl verschiedener Pflanzen wucherte. Gaby fragte sich, wozu die Frau bei diesem Urwald noch Scheibengardinen benötigte. Die Bewohnerin bemerkte ihren Blick.
„Die Gardinen verhindern, dass die Scheiben durch die Pflanzen blind werden“, erklärte sie, „ich persönlich finde es nicht besonders schön, aber neues Fensterglas ist teuer.“
Sie bot den Ermittlern Platz an und verschwand dann. Als sie zurückkam, hatte sie sich ein schlichtes Kostüm angezogen und trug Feinstrümpfe. Die Lockenwickler waren aus ihrem Haar verschwunden, und sie hatte sich frisiert. Dann ging sie in die geräumige Wohnküche und kehrte kurze Zeit später mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kanne mit duftendem Kaffee stand, sowie eine Schale mit selbst gebackenen Keksen. Max bekam große Augen.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die Frau, nachdem sie beiden Kaffee eingeschenkt und sich ebenfalls gesetzt hatte.
„Frau Wally Albrecht, richtig?“, fragte Max.
Die Frau nickte. „Ja, das ist korrekt. Bitte greifen Sie doch zu! Ich habe die Plätzchen gerade aus dem Backofen geholt. Sie müssten noch warm sein. Ich bekomme nicht sehr oft Besuch. Und heute ist mein Geburtstag. Der sechsundachtzigste.“
Gaby sah sie verwundert an. Sie hatte sie deutlich jünger geschätzt. Wally Albrecht fuhr fort.
„Als mein Mann noch lebte, sind wir zu meinem Geburtstag immer verreist. Letztes Jahr ist er verstorben. Krebs, Sie verstehen? War nichts mehr zu machen. Mein Sohn lebt weit weg in Amerika. Er hat zwei Kinder, Jim und Molly. Ich habe die Kleine erst viermal gesehen. Sie ist inzwischen auch schon sechzehn. Jürgen nennt sich jetzt John. Er schickt mir immer Fotos von den Kindern. Ja, so ist das manchmal im Leben. Zum Glück hat mein Mann mich gut versorgt, und meine Rente habe ich auch noch. Ich gehöre also nicht zu den Rentnerinnen, die der Altersarmut anheimgefallen sind. Entschuldigen Sie, ich quatsche schon wieder zu viel. Wolfgang hat mir das schon so oft gesagt. Nun ist er auch nicht mehr da.“ Wally Albrecht nahm ihre Kaffeetasse und trank einen Schluck.
„Wie gut kannten Sie Wolfgang Bredel?“
Gaby griff ebenfalls nach ihrer Tasse und nippte daran. Der Kaffee war heiß und duftete köstlich.
„Wir kannten uns schon ewig. Wir sind damals gemeinsam aus Niederschlesien vertrieben worden und haben uns dann in Bad Kösen wiedergetroffen. Bevor nichts mehr ging, sind unsere Familien aus der Ostzone geflohen. Und schließlich sind wir alle in Braunschweig gelandet. Wolfgang und ich haben uns niemals für länger aus den Augen verloren.“
„Waren Sie mal ein Paar?“
„Aber nein, was denken Sie denn? Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Auch wenn er ein Jahr älter war als ich. Ich glaube, es passiert sehr selten, dass daraus eine Beziehung wird.“
„Was war Wolfgang Bredel für ein Mensch?“
Gaby hatte sich einen Keks genommen und es bereitete ihr Mühe, mit vollem Mund ihre Frage auszusprechen.
„Na ja, er war sehr charmant und vor allem bei den Mädchen des Dorfes äußerst beliebt. Aber er war auch ein kleiner Frechdachs. Er hat es geliebt, die Kinder von den Landarbeitern zu ärgern.
Als wir dann irgendwann alle in Braunschweig gelandet waren, hat er bald das Busunternehmen gegründet. Bredel Busreisen, falls Ihnen das was sagt. Ich habe dort als seine rechte Hand gearbeitet, als Sekretärin, Prokuristin und sonst noch alles mögliche. Ich war sein Mädchen für alles. Er hat mich gut dafür bezahlt. Und als vor über zwanzig Jahren die Firma verkauft wurde, war ich im Rentenalter. Das hat perfekt gepasst. Mein Mann und ich hatten noch viele schöne Jahre, bevor er krank wurde. Die letzten zwei Jahre habe ich ihn gepflegt. Ich sage so etwas nicht gern, aber sein Tod war auch für mich eine Erlösung.“
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