Vom Leben durchbuchstabiert
1. Auflage, erschienen 3-2021
Umschlaggestaltung: Romeon Verlag
Text: Wolf-Dietrich Zielinski
Layout: Romeon Verlag
ISBN: 978-3-96229-814-2
www.romeon-verlag.de
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WOLF-DIETRICH ZIELINSKI
VOM LEBEN
DURCHBUCHSTABIERT
GEDICHTE
Unwägbarkeiten
Was kennzeichnet mich: a, b oder c
Vom Leben durchbuchstabiert,
erfahre ich mich als Wechsel aus Variablen.
Jeder Tag eine neue Hypothese,
wie es wohl werden mag,
morgens aufgestellt, abends widerlegt.
In mir der Einklang des Unberechenbaren:
Die Geheimsprache feuernder Neuronen,
mit der Gehirnareale kommunizieren,
mal ein Lauffeuer, mal ein Sperrfeuer.
Mein Regent: der eigenwillige Herzmuskel
mit seiner Kreislauf-Logistik im Blut,
die mich am Leben erhält — wie lange noch?
Der Mikrokosmos intelligenter Zellen,
vereint im abgestimmten Zusammenwirken,
im körperweiten Voneinander-Wissen,
verbreitet durch Signalproteine,
Quantenkuriere, Photonenbotschafter.
Diese lautlose Beredsamkeit in mir,
vielsprachig, dennoch im Einverständnis:
Zellen synchronisiert zu Organen.
Die zahlreichen Idiome der Moleküle und Photonen
mit ihrem bedeutsamen Vokabular der Quanten,
Träger wirksamer Informationen,
die im Zusammenspiel mein Leben steuern.
Was für ein rätselhaftes Geschöpf:
mein eigenes Lebewesen, polyglotte Kreatur,
deren Sprachen ich nur bruchstückhaft verstehe.
Was ich an Wissen verkörpere,
mir einverleibt von der Evolution,
bleibt mir verborgen.
Der Unbekannte in mir,
allwissendes Alter Ego,
lebt mein Leben.
Ich aber führe ein Schattendasein
als wissbegieriger Ignorant.
Nicht der ich eben noch war.
Nicht der ich sein werde, der Unbekannte.
Auch nicht der scheinbar Gegenwärtige,
der sich selber ständig verdrängt.
Ich bin in der Schwebe der Übergänge.
Bin die Spannung zwischen den Atemzügen,
beim Richtungswechsel der Lungenflügel,
im Rhythmus der Herzklappen.
Ich bin in der Schwebe als Empfänger und Sender,
von jeder Zelle bis hin zum Gehirn,
ein Geschöpf aus Schwingungen, Resonanzen —
lebe im Wechselspiel von Makro- und Mikrokosmos.
Gott und die Natur können es nicht ertragen,
dass irgendetwas umsonst oder leer bleibt.
Meister Eckhart
Wegen der unvermeidlichen Anwesenheit von virtuellen
Teilchen entspricht das Vakuum nicht der traditionellen
Auffassung eines Vakuums als absoluter Leere.
Claus Kiefer (Quantenphysiker)
1
Wie viel mehr an Leere
bräuchte die Leere noch,
um absolut leer zu sein,
wollte ich wissen.
Doch ich bekam keine Antwort.
2
Mir rätselhaft,
wie sich die Leere verteilt
in meinem Körper — über 99 Prozent.
So viel verborgenes Vakuum,
angesammelt in jedem Atom,
im molekularen Kollektiv der Zellen.
Ein minimaler Rest aus Materie,
der meinen Leib verfestigt,
täuscht mich über die Leere hinweg.
Mir unbegreiflich,
wie die Bindungsenergien,
die mich zusammenhalten,
jedes Vakuum überlisten.
3
Photonen,
optimiert in der Leere
zur Lichtgeschwindigkeit,
vom Vakuum geadelt
zur Naturkonstanten.
4
Unfassbar fein verteilt in meinem Leib
und doch vereint in ihrem Potential
der Möglichkeiten, der virtuellen Energien:
die unbekannte Innenwelt der Leere,
eng verwoben mit der Großen Leere.
Dieses universale Vakuum
mit seinem unbegrenzten Informationsfeld.
Das ganze kosmische Wissen in Wellen gespeichert,
unabhängig von Raum und Zeit,
überall verfügbar, ständig erweitert.
Ein wirkmächtiges Wissensfeld, in dem ich
als Schwingungsgebilde von Körper und Psyche
auf unergründliche Weise mitschwinge … mitschwinge …
5
Versprengte Atome
im interstellaren Raum,
fernab der prächtigen Gaswolken —
Einsamkeit in der Leere.
6
Ich fühlte mich ihnen ausgeliefert,
und sie vereinnahmten mich:
die hinterhältigen Sphären der Leere.
Sie drangen in meine Sinne ein,
legten meine Stimme still
und höhlten mir die Blicke aus.
Die Dinge um mich hinterließen,
als hätten sie sich gehäutet,
nur abgestreifte Erscheinungen,
erstarrt zur Hülle des Nichts.
Der Raum verkörperte Leere: Menschenleere,
wurde zum Innenraum meiner Seele,
ein Ort wie ausgestorben.
Ich bin mir kryptisch verschlüsselt,
eine beseelte leibliche Chiffre,
sich ständig verändernd, winziges Teilchen
im universalen Code alles Lebendigen,
den nur das Leben selbst entschlüsselt.
Ich bin mir — warum nur? — ein lebenslanges Geheimnis.
Unzugänglich die Kehrseite meiner selbst.
Das Land meiner Seele: Terra incognita.
Wird sich nach meinem Tod
der Zugang öffnen zu diesem Geheimnis —
zum Geheimnis des Lebens?
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