Winfried Thamm
Eine Rückschau auf das Leben mit Tendenz nach vorne.
Menschen werden älter, manche sogar alt.
Und wo das Alter ist, da ist die Weisheit nicht weit – aber auch nicht die Borniertheit, das Erinnern, das Vergessen, körperliche Gebrechlichkeit, Einsamkeit, langjährige Freunde, der Tod.
Genau das erleben die Protagonisten in Winfried Thamms Kurzgeschichten. Ob dicker alter Mann, trauernder Freund oder zurückgezogener Rentner – sie alle haben Muskelkater vom Leben.
Sie schwelgen in wertvollen Erinnerungen und kosten die Vergänglichkeit aus, aber sie meckern und stöhnen auch, sie leiden und sie schämen sich.
Winfried Thamm schreibt schonungs-, aber niemals hoffnungslos über das Altern, manchmal satirisch, oft ernst, meistens feinsinnig, immer dem Leben zugewandt.
Und überall schimmert die Sehnsucht durch.
1. Auflage Januar 2017
© 2017 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung:
OCM GmbH, Dortmund
Verlag:OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-942672-53-5
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Für meinen Bruder Ulrich, der in keiner meiner Geschichten vorkommt und doch in vielen sehr präsent ist.
1 Inhaltsverzeichnis
2 Dann werden wir alt
3 Smartphonomanie
4 Eine Übung in Geduld und Demut
5 Notgedrungen eingedrungen
6 Seniorenglück
7 Auf der Brücke am Kanal
8 Aus der Stadt fallen
9 Campus
10 Steine, Sand und Meer
11 Es ist anders als sonst
12 Casting
13 Warte mal
14 Fischsuppe
15 Nachtschwärmer
16 Die Schönen und die Alten
17 Am Meer
18 Der Geruch der Bahnhofsfrauen
19 Freier Fall
20 Blicke auf Pinienwälder
21 Von der Not um die richtigen Worte
22 Das Auslaufmodell
23 Dicke Männer
24 Alte Freunde, alte Zeiten
25 Aufstand alter Männer
26 Forever young
27 Über den Autor
28 Weitere Bücher von Winfried Thamm
29 Über den Verlag
1 Inhaltsverzeichnis
Wenn das Herz aus dem Takt kommt,
weil uns die Gegenwart zu sehr treibt,
wenn die Seele in den Knien zittert,
weil die Vergangenheit sie drückt,
wenn das Glück keine große Oper mehr braucht,
weil schon ein Kammerspiel genügt,
dann werden wir alt.
Wenn das Herz aus dem Tritt kommt,
weil die Zukunft ihm zu steinig wird,
wenn die Seele mehr rückwärts lebt,
weil das Vorwärts sie verwirrt,
wenn das Abenteuer nicht mehr reizt,
weil die Helden müde werden,
dann werden wir alt.
Wenn das Herz sich verschluckt,
weil es das Wort Pflegeheim übt,
wenn die Seele schlecht schläft,
weil alte Schuld sie quält,
wenn die Hoffnung alledem trotzt,
weil wir uns immer noch haben,
dann werden wir alt.
Ich gehe gar nicht mehr raus. Bleib nur noch drin. Hier zu Hause in meinen eigenen vier Wänden. My home is my castle. Ist zwar schade, bei diesem schönen Wetter: Laues Lüftchen, das erste Grün, die Sonne scheint. ,Der Frühling lässt sein blaues Band …‘ Hab ja ’nen Balkon.
Warum ich nicht mehr vor die Tür gehe? Ach, ich kann es nicht mehr ertragen. Was? Diese Dinger, jeder hat eins. Was für Dinger? Smartphones, I-Phones, Mobiltelefone. Handys eben. Alle gucken drauf, kaum einer telefoniert damit. Und wenn doch, dann laut. Ganz Raffinierte haben das Gerät versteckt. Ihnen schauen nur noch zwei Kabel aus den Ohren, während sie lauthals palavernd und wild gestikulierend durch die Gegend laufen. Früher hätte man sie eingefangen und in die Klapse gesperrt, aber heute …
Neulich im Supermarkt war vor mir an der Kasse ein Mann, den seine Frau anscheinend zum ersten Mal einkaufen geschickt hatte. Der wusste gar nichts, fragte seine Frau alles, per Handy, versteht sich. Der einkaufenden Öffentlichkeit gab er seine vollkommene Unkenntnis über Nahrungsmittel, Preise, Kochkünste und über das Leben im Allgemeinen preis. Der hatte aber auch von nichts eine Ahnung und schämte sich nicht einmal. Das ist auch so eine Zeiterscheinung: Man schämt sich nicht mehr.
Wenn früher im Restaurant einmal versehentlich ein Handy klingelte, fiel sofort eisiges Schweigen vom Himmel, die Sonne verdunkelte sich und alle starrten den Täter böse an. Ihm stieg pflichtbewusst die Schamesröte ins Gesicht, er fummelte sein Handy heraus und schaltete es ab.
Heute bestellen sich immer mehr Gäste sogenannte One-hand-meals , die sie nur mit der Gabel oder dem Löffel essen können, damit sie eine Hand frei haben, fürs Handy. Haben Sie das mal beobachtet: Die modernen Paare sitzen sich gegenüber, aber schauen sich nicht in die Augen, reden nicht miteinander. Liebevoll blicken sie auf ihren leuchtenden Liebling, wischen ihm durchs Bildschirmgesicht, zaubern ihm neue Bilder auf die Oberfläche, putzen ihm das virtuelle Näschen, tippen mit flinken Fingern auf ihm herum, als wollten sie ihn kitzeln, kraulen, liebkosen oder zum Lachen bringen. Manchmal zeigen sie ihrem Gegenüber stolz das Handygesicht, als wollten sie sagen: „Schau mal, was mein Kleiner alles kann!“ oder „Ist der nicht süß?!“ Das Gegenüber schaut auf und lächelt mild, kurz und uninteressiert. Es will seinen eigenen Handy-Schatz nicht zu lange allein lassen.
Als ich das letzte Mal mit einer Freundin essen war, legte sie gleich ihr Handy neben den Teller. Ich nahm Platz und griff zur Speisekarte. Sie schaute mich besorgt an und fragte: „Was ist mit dir? Hast du etwa dein Handy vergessen? Dann lauf doch schnell zurück zum Auto und hole es.“ Und mit aufsteigender Panik in den Augen ergänzte sie: „Oder liegt es etwa ganz allein bei dir zu Hause auf der Anrichte?“ Als ich ihr offenbarte, dass ich gar keins besäße, war der Abend gegessen. Ihre Konversation verkrampfte zu gestammelten Halbsätzen, vor lauter Stress den ganzen Abend reden zu müssen. Sobald ein leises Vibrieren oder eines der diversen Signalmelodien ihres Handys die Ankunft einer WhatsApp, E-Mail, Voice-Mail, SMS, MMS, Bild-, Text- oder Sprachnachricht meldete, war ich abgemeldet. Sie tippte ellenlange Antworten in ihren kleinen Begleiter oder sprach zehn Minuten mit ihrer Mutter, übrigens in ganzen Sätzen und ohne zu stottern, scherzte mit ihrer Freundin, statt mit mir und verschickte die süßesten Smiley-Komplimente, begleitet von niedlichen Seufzern echten Mitgefühls. Als dann noch der Kellner kam und unsere Bestellung in sein I-Phone eingab, verließ ich fluchtartig das Lokal.
Auf der Fahrt nach Hause musste ich höllisch aufpassen und entging nur mit Glück einem schweren Unfall, weil die Fahrer nicht mehr auf die Straße schauten, sondern auf ihre leuchtenden Displays. Vor meinem Haus überfuhr ich fast einen Fußgänger, der ohne zu schauen auf die Fahrbahn latschte, mit leicht gesenktem Kopf, einem abwesenden Lächeln auf den Lippen und dem Blick auf sein Smartphone.
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