„Gut, machen Sie weiter“, forderte von Löbke Allershausen auf. Dieser räusperte sich und fuhr dann fort. „Neben dem Blut der Leiche haben wir unter dem Beistelltisch“, er deutete auf ein weiteres Foto, „den restlichen Inhalt der Tasse gefunden. Außerdem lag auf dem Boden eine zerbrochene Konfektschale, kein Meißen, sowie einige Pralinen, die es hier in Deutschland nicht zu kaufen gibt. Sie stammen aus Italien, von einer Schokoladenmanufaktur namens Il Modiciano, ebenfalls sehr teuer. Wir haben im Mülleimer die Verpackung, einen kleinen Postkarton und eine Grußkarte von einem gewissen Johannes gefunden, die Pralinen waren offenbar ein Geschenk zum Vatertag. Wie wir inzwischen ermitteln konnten, handelt es sich bei diesem Johannes um Dr. Johannes Bredel, den ältesten Sohn des Mordopfers.“
Marita von Löbke blickte ziellos in die Luft und nickte, als wollte sie die soeben gehörten Informationen zunächst verarbeiten.
„Ist der Sohn schon befragt worden?“, fragte sie dann.
Nun ergriff wieder Norbert das Wort.
„Johannes Bredel leitet eine medizintechnische Firma in Magdeburg. Er ist selbst von Haus aus Chirurg, hatte aber irgendwann die Nase voll von dem stressigen Beruf und hat sich selbständig gemacht. Ich habe Golus gebeten, mal das elektronische Archiv nach ihm zu durchforsten, und er ist tatsächlich sehr schnell fündig geworden. Unser neuer Archivar ist ein echter Gewinn für uns, was auch immer er suchen soll, er findet es. Bredel junior ist mal vor einigen Jahren von Men’s Health interviewt worden. Darin hat er gesagt, dass er jetzt sehr erfolgreich die medizinischen Apparaturen herstellt, die er als praktizierender Chirurg gern gehabt hätte. Ein richtiger Tüftler, hat schon mehrere Erfinderpreise bekommen. In der Nähe von Bozen in Südtirol, also Norditalien, gibt es seit einigen Jahren eine Zweigstelle seiner Firma. Die Pralinen, die der alte Bredel kurz vor seiner Ermordung vertilgt hat, stammen von dort. Persönlich konnte er allerdings noch nicht befragt werden, da er sich bis nächste Woche Mittwoch in seiner Zweigstelle in Sankt Pauls aufhält. So lange müssen wir warten. Wir haben ihn telefonisch über das Ableben seines Vaters in Kenntnis gesetzt, aber er erklärte uns, es sei ihm unmöglich, seine Geschäftsreise zu unterbrechen. Er will aber auf dem Weg nach Magdeburg bei uns reinschauen.“
„Haben Sie bei Ihren Untersuchungen Fingerabdrücke in der Wohnung des Opfers gefunden?“
Der schlaue Rolf räusperte sich geräuschvoll, bevor er antwortete.
„Die Wohnung war übersät mit Fingerspuren, die meisten stammen vom Opfer. Außerdem haben wir noch die der Reinigungskraft gefunden. Der Stationsarzt war so freundlich, sie ihr für uns abzunehmen. Ich weiß, das ist keine gängige Praxis, aber in diesem Fall war das eilig. Wir konnten des weiteren insgesamt fünf verschiedene Abdrücke unbekannter Herkunft sicherstellen. Höchstwahrscheinlich sind die des Sohnes darunter, vielleicht auch die seiner übrigen beiden Kinder, Bredel hatte noch eine Tochter und einen weiteren Sohn. Wir werden alle drei Kinder befragen müssen, nachdem wir ihre Fingerabdrücke genommen haben. Auf der Meißner Tasse waren übrigens nur die Spuren des Opfers.“
„Und was für ein Typ ist dieser Golus?“
Marita von Löbke blickte fragend in die Runde. Norbert sah Gaby auffordernd an.
Sie begann zu erzählen.
„Dragan Golus war im vergangenen Jahr eines der potentiellen Opfer des Prinzenparkmörders. Er war aktiver Alkoholiker, als wir ihn kennen lernten, mittlerweile ist er trocken. Der Prinzenparkmörder hat ihm in seinem Wahn ...“
Marita von Löbke hob die Hand. „Danke, ich kenne den Fall. Und wieso ist er jetzt bei uns im Archiv?“
„Norbert, Hauptkommissar Wenger, hat ihm mithilfe des Polizeipräsidenten den Job verschafft, nachdem Golus sich erholt hatte. Er hatte sehr viel durchgemacht. Wir wollten ihm helfen. Und er hat sich bewährt.“
„Nun, ich wusste nicht, dass die Polizeidirektion Braunschweig eine Auffang-
station für gestrandete Trinker ist. Aber wenn der Polizeipräsident sein Placet gegeben hat? Sei’s drum. Ist Golus deutscher Staatsbürger? Das wäre schon wichtig für die vertrauliche Arbeit im Polizeiarchiv.“
Norbert Körper geriet angesichts der arroganten Art seiner neuen Chefin wieder in Aufruhr. Es fiel ihm schwer, seine Antwort sachlich vorzutragen.
„Dragan Golus ist gebürtiger Jugoslawe, als es den Staat Jugoslawien noch gab. Er wurde in Zagreb geboren, ist aber seit seinem achten Lebensjahr in Braunschweig, weil sein Vater seinerzeit einen Job als Fernmeldetechniker bekommen hat. Und natürlich ist er deutscher Staatsbürger.“
„Sein Nachname klingt nicht gerade jugoslawisch. Eher... keine Ahnung, jedenfalls nicht wie einer vom Balkan. Aber gut. Ich gehe davon aus, dass er Ihr Vertrauen genießt. Dann soll es mir gleich sein, woher Golus stammt.“
Die neue Kommissariatsleiterin stand sie auf und strich sich ihr Kleid zurecht. „Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen sehr für die umfangreichen Auskünfte. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass ich es hier mit erfahrenen Ermittlern zu tun habe und bin sehr gespannt auf ihre weiteren Ergebnisse. Einen schönen Nachmittag noch.“
Damit verließ Marita von Löbke den Besprechungsraum.
„Sie hat noch keine Pressekonferenz verlangt“, sagte Norbert verwundert, „Frankenstein hätte schon längst den Pressesaal auf Hochglanz polieren lassen.“
„Vielleicht ist sie doch nicht so übel, wie sie sich am Anfang der Besprechung gegeben hat.“
Gaby sah Norbert mit einem leichten Lächeln an. Doch der legte nur die Stirn in Falten. Sein Handy klingelte. Er nahm das Gespräch entgegen. Es war das Krankenhaus, in dem Bredels Putzfrau lag. Norbert brummte eine kurze Zustimmung und legte dann auf.
„Aleksandra Pawlak ist jetzt vernehmungsfähig. Lass uns in die Salzdahlumer Straße fahren.“
Bredels Zugehfrau saß aufrecht in ihrem Bett und weinte.
„Bitte entschuldigen Sie!“ Sie schluchzte.
Gaby hörte einen leichten polnischen Akzent.
„Das ist alles zu viel für mich. Ich habe noch nie etwas so Schreckliches erlebt. Das viele Blut!“
Sie griff nach einem Taschentuch, das auf dem Nachttisch lag, und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Frau Pawlak“, begann Gaby vorsichtig, „wir müssen Ihnen einige Fragen stellen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“
Die junge Frau nickte. „Fragen Sie! Ich will, dass sie den Kerl schnappen, der Herrn Bredel ermordet hat. Er war so ein guter Mensch. Wer tut so etwas bloß?“ Sie begann wieder zu schluchzen. Gaby sah Norbert an, dann wandte sie sich wieder der Zeugin zu.
„Frau Pawlak, besaß Herr Bredel ein Porzellanservice von Meißen?“
„Er hatte ein Service für sechs Personen. Die große Feldblume mit zwei Nebenblumen. Herr Bredel hat es seiner Frau zur Silberhochzeit geschenkt. Das hat er mir mal erzählt. Das Service steht in der Vitrine in der Küche.“
„Nein, Frau Pawlak, da steht es nicht. Die Vitrine in der Küche ist leer. Haben Sie eine Vorstellung, wo es sein könnte?“ Norberts Stimme war nun lauter geworden.
Aleksandra Pawlak starrte ihn verwundert an. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Wo soll es denn sein? Es hat immer da gestanden.“
„Das würden wir gern von Ihnen wissen“, antwortete er.
Gaby drehte sich zu ihm um und sah ihn streng an.
„Oh, nein, so brauchen Sie mir nicht zu kommen!“
Auf Alexandra Pawlaks Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet.
„Ich kenne die Vorurteile, die man gegenüber uns Polen hat. Kaum beim Polen, schon gestohlen. Ich habe das Service nicht genommen. Sie können gern sofort mein Haus durchsuchen.“
„Wir müssen diese Fragen stellen, Frau Pawlak.“
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