Mein Klavier war zu dieser Zeit mein bester Freund, mit dem ich mich zu jeder Zeit abgeben konnte und der Kamerad, der mir nichts Böses antat. Habe ich die Tasten des Klaviers gestreichelt, gab es Töne in allen verschiedenen Höhen und Tiefen von sich, laut und leise, und je gefühlvoller ich in die Tasten griff, desto schöner war die Musik, die aus meinem Klavier kam. Ich konnte schon auch beides spielen: nahezu monoton eintönig mit Schwerpunkt Rhythmus oder melodisch gefühlvoll. Die emotionalen Stücke gefielen mir irgendwie mehr, das ist übrigens heute noch so.
Es war ein echtes Klavier, kein elektronischer Schrott, sondern ein echtes, schwarz lackiertes Klavier, allerdings mit Abnutzungsspuren an den Kanten, angesichts der Jahre, die es auf dem Buckel hatte. Es stammte von meinem Vater aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts, war aber noch sehr gut erhalten – und natürlich vom Klavierstimmer gestimmt. Ursprünglich war es mal in Stuttgart gestanden, und die erste Frau meines Vaters, die noch während des zweiten Weltkriegs starb, hatte laut Erzählungen gut und oft darauf gespielt. Nach ihrem Tod hatte es meinen Vater wieder in seine alte Heimat gezogen, und das Klavier nahm er dann einfach mit, möglicherweise als Andenken an seine Frau. Heute weiß ich nicht mehr, ob auch er spielen konnte. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, ihn je spielen gehört zu haben. Und eben an diesem Klavier durfte nun aber ich spielen lernen. Im Alter von sieben Jahren begann ich mit klassischer Musik, zweieinhalb Jahre lang. Danach war sozusagen die Luft zunächst mal raus. Ich spielte dann nur noch zum Zeitvertreib, alles Mögliche, was ich gerade so spielen konnte und was ich bis dahin gelernt hatte. Und natürlich auch nur das, was ich spielen wollte.
Später fing ich damit an, mir selbst Stücke beizubringen, nachdem ich mir dazu die Noten besorgt hatte. Nach dem Vorbild meiner Klavierlehrerin, einer überaus engagierten Schülerin des damaligen musikalisch-künstlerischen Gymnasiums in unserer Stadt, habe ich in ähnlicher Weise in den Noten rumgekritzelt, gestrichen und markiert, wie sie es sicherlich auch getan hätte, wenn sie neben mir gesessen wäre und mich unterrichtet hätte. Ich war echt stolz auf mich, schließlich konnte ich jetzt all die modernen Stücke ohne große Probleme nahezu „vom Blatt“ spielen, also ohne zuvor daran intensiv geübt zu haben.
Ich hab’s zwar gemerkt, aber ich wusste nicht, dass die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade unter den Noten beabsichtigt waren. Das war für mich uninteressant, solange das Stück die Melodie hergab, die ich haben wollte. In Einzelfällen fiel mir natürlich schon auf, dass es durchaus gewaltige Unterschiede zur Radioversion des einen oder anderen Stücks gab. Aber ich gab mich dann mit dem Gedanken zufrieden, dass es wohl daran liegen musste, dass ich nur ein Klavier zum Klingen brachte und nicht ein ganzes Orchester oder eine Band.
Dass ich Klavier spielen konnte, war übrigens auch vorteilhaft im Fach Musik. Einmal gut vorspielen zog die Note einer verhauenen Klassenarbeit für den zu berechnenden Schnitt der Zeugnisnote in Musik beträchtlich nach oben. Sicherlich war auch das Spielen anderer Instrumente zugelassen, um den Notendurchschnitt zu verbessern, aber ich kann mich nur an mein eigenes Vorspiel erinnern.
Möglicherweise war aufgrund der damaligen Raumnot ausgerechnet unser Klassenzimmer im Musikzimmer der Schule untergebracht, genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls stand bei uns ein Klavier im Klassenzimmer. Unsere Klasse war die 5 c. Der Klassenraum war ganz am Ende des Flurs im Kellergeschoss des Schulgebäudes untergebracht. Wenn man darauf zu lief, die letzte Türe rechts.
Nach Betreten des Raumes hatte man direkten Blick zur Fensterfront. Etwa dreiviertel der Aussicht machte ein zum Fenster hin abfallender Hang aus, ein mit Rasen bewachsener Boden. Wir waren ja im Kellergeschoss! Tageslicht fiel dennoch ins Zimmer, sodass ich damals keine Lichtdefizite empfand. Mit einigen Metern Abstand zum Hang verlief oben ein geteerter Fußweg entlang eines Waldes, den wir Schüler offiziell nicht betreten durften.
Das Klassenzimmer war ausgestattet mit reichlich Tischen und Stühlen für Halbwüchsige. Wenn man den Raum betrat, lief man entlang der Wand auf der rechten Seite geradewegs auf das Lehrerpult zu. Dort hing auch die Tafel an der Wand und noch weiter hinten, Richtung Fenster, stand dann das Klavier. Rechts, gleich neben der Türe, befand sich ein Waschbecken in einer Nische und auch ein Abfalleimer. Im hinteren Teil des Raumes standen nicht benötigte Tische und Stühle an die Rückwand geschoben und teilweise übereinandergestellt.
Ich weiß noch, dass sich die Sitzordnung ständig geändert hatte. Mal saßen wir klassisch zu zweit an einzelnen Tischen mit Sicht zum Lehrer, dann wurden die Tische zusammengeschoben, sodass die Schüler im Inneren der Reihe zwei direkte Nachbarn hatten. Dann wurde eine sogenannte U-Form gebildet. Man stellte die Tische also so auf, dass die Tischanordnung als Ganzes im Ergebnis bei einer gedachten Draufsicht wie ein „U“ aussah. Oder es wurden auch mal Gruppen gebildet, indem man zwei oder drei Tische zusammenschob, an denen dann vier bis sechs Schüler saßen. Ich muss heute feststellen, dass unsere Lehrer durchaus flexibel waren und den damaligen neuen Lehransätzen gegenüber aufgeschlossen agierten. Solche „ausufernden“ Sitzordnungen waren zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen.
Mit Klavierspielen konnte ich auch bei den Mitschülern ein wenig punkten und vereinzelt imponieren. Mir fiel damals auf, dass außer mir in der Klasse nur noch ein Mädchen Klavier spielen konnte, das war die, die auch den Kerl mit den großen Augen und den Schlappohren an die Tafel gemalt hat, Jana. Und das hat mir imponiert. Sie war etwa ein halbes Jahr jünger als ich und sah gut aus. Natürlich waren noch andere gutaussehende Mädchen in der Klasse, aber sie hatte zudem ein gleiches Interesse wie ich: Sie konnte Klavier spielen. Und das machte sie mir aus damaliger Sicht besonders sympathisch: Sie stach aus der ganzen Mädchenriege heraus, sie gefiel mir einfach.
Vielleicht hätte sich eine neue Freundschaft entwickeln können, nachdem Siegfried nicht mehr da war. Eine echte Jungenfreundschaft wäre daraus aber niemals geworden, weil ja nun ein Mädchen „der“ andere war. Was machte man dann also, wenn man am „anderen“ interessiert war? Man warf ein ganz besonderes Auge auf diese Person!
Möglicherweise war anfangs tatsächlich beiderseits nur ein platonisches Interesse am jeweils anderen vorhanden. Wohlgemerkt lediglich an einer ganz normalen Freundschaft zwischen Klassenkameraden, mehr zunächst mal nicht! Sie konnte Klavier spielen, ich auch. Jeder zeigte dem anderen einmal ein neues „einfaches“ Stück, wie man das spielte und, und, und.
Ich glaube, es war das Klavierspiel, das uns aufeinander aufmerksam werden ließ. Sie hätte mein Freund werden können, wäre da nicht auch die Geschlechterrolle mitentscheidend gewesen. Ach, was hat sich der Herrgott nur dabei gedacht, als er die Frauen erschuf – oder vielmehr die Mädchen, aber Jungs sind kein Stückchen besser. In diesem Alter ist doch alles noch so unsagbar kompliziert in der Beziehung zum anderen Geschlecht. Für mich begann eine neue Phase bei der Erkundung der Welt, ohne dass es mir überhaupt bewusst war. Es war sozusagen der berühmte Schubser ins kalte Wasser: Lerne Schwimmen oder gehe unter!
Und es kam, wie es kommen musste. Aus einem Mal Hingucken wurde Flirten, dann kam das verschämte „wieder Weggucken“ und gleichzeitig ein Kribbeln im Bauch. Dann gingen kleine Zettel auf Wanderschaft, sogenannte Liebesbriefchen. Ach ja, damals schrieb man sich tatsächlich noch kleine Zettel mit Nachrichten, die ggf. über mehrere Mitschüler während des Unterrichts weitergereicht wurden, bis es den Adressaten erreichte. Das ging dann einige Male hin und her, bis es einem der dazwischen sitzenden Mitschüler zu dumm wurde und dieser den Zettel auseinanderfaltete, las und den Inhalt des Briefchens herumerzählte und somit den Absender je nach Nachrichteninhalt diskreditierte. Oder der Lehrer beschlagnahmte den Zettel. Das war dann äußerst peinlich, wenn darauf dann tatsächlich Liebeserklärungen zu lesen waren. Aber ich fand es einfach aufregend.
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