Der bittere Kuss meiner Mutter
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
33. Bilder
Nachwort
Eileen
Es war keine traurige Beerdigung.
„Ich will nicht, dass jemand auf meiner Beerdigung weint”, sagte sie und sah mich dabei mit ihrem durchdringenden Blick an.
„Keine Sorge”, versicherte ich ihr, „das wird nicht passieren.”
Ihre Augen verengten sich – das eine Auge war jetzt fest zugekniffen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch giftiger als vorher.
Ich war überrascht, dass sie sprachlos war, wollte aber ihren Gedankengang nicht entgleisen lassen. Der war sowieso von der Bahn abgekommen, denn der Lokführer hatte aufgegeben und seinen Posten verlassen. Ihre Gedanken saßen auf den Schienen und kamen nicht mehr vorwärts. Verschollen im Nichts. Also genoss ich schweigend ihre aufkommende Reaktion auf meine verheerende Antwort und wartete, bis sie sich wieder gesammelt hatte.
„Oh du, du, du –“, gelang es ihr zu sagen, bevor ihr wieder die Worte fehlten. Dann stützte sie sich am Schrank ab und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Whiskey. Wie immer, schauderte sie und verzog das Gesicht.
„Ach“, sagte sie wie üblich, „ich hasse den Whiskey.“
Ich grinste hochmütig. Dies war eine besondere Liebesbeziehung. Ich liebe dich, hasse dich, liebe dich, hasse dich, aber ich will dich; bis dass sich die Welt aufhört zu drehen. Johnny Walker, ein gefragter Mann.
Sie stieß sich von dem Schrank ab und schwankte majestätisch zu ihrem Lieblingssessel. Warum ist es, fragte ich mich, dass sie nicht ein einziges Mal mit dem Absatz an den Fransen des Casa-Pupo-Teppichs hängen geblieben war? Die Knoten waren so groß wie Walnüsse. Wenn es noch Recht in dieser Welt gäbe, hätte sie auf ihr Gesicht fallen und sich ihren verdammten Nacken brechen sollen. Aber sie erreichte den Sessel und fiel schwer hinein, bevor sie ihr Glas sicher auf den Sofatisch neben sich stellte – ohne auch nur einen Tropfen von ihrem kostbaren Getränk zu verschütten. Sie schob das Glas bis an die Kante des Tisches und streichelte es liebevoll. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, das Glas an einen sichereren Platz zu verschieben, weil sie es jedes Mal wieder an die Kante des Tisches zurückbrachte – offenbar eine bequeme Position für sie. Es ist ironisch, dachte ich; sie will unbedingt am Rand sein, während ich versuche, sie in Sicherheit zu bringen. Wenn mein Leben am Rand ist, schiebt sie mich weiter bis zur Kante und ich muss selbst kämpfen, um meine Sicherheit zurückzugewinnen.
Es gab nichts weiter zu sagen, also drehte ich mich um und ging auf die Tür zu. Dabei blieb ich mit meinem Absatz in den Fransen des Teppichs hängen. Mein inniges Gebet war, dass ihr das Gleiche passieren würde, als sie in ihr Bett torkelte. Ja, fall aufs Gesicht und brich dir deinen verdammten Nacken. Ja, ja, ja. Ich würde dir nicht helfen und du wärest tot, tot, tot.
Als ich jung war, konnte ich das Problem nicht erkennen. Internat und nachlässige Eltern sorgen für eine instabile Lebensbasis. Obwohl ich mir Schlimmeres vorstellen kann, was zum Glück nicht mein Fall war. An meine glückliche Zeit im Internat erinnere ich mich gerne.
Es war ein sehr schöner Ort, in Burradoo , in der Nähe von Bowral in den Southern Highlands in New South Wales – der kälteste Ort in der Welt nach der Antarktis, darin waren wir uns alle einig! Die Nonnen waren nicht daran interessiert, das Gebäude zu heizen, denn das wäre eine Sünde gewesen. Wir mussten durch spartanisches Leben unsere Seelen retten; die verlorene Seele eines fünf Jahre alten Kindes!
Ich hing an der Hand meiner Mutter, als wir das erste Mal in die Central Railway Station gingen, um das Gleis für meinen Zug in die Walachei zu finden. Die Lokomotive paffte lässig vor sich hin. Die Dampfwolken aus dem Maschinenraum verströmten einen seltsamen Geruch, der meine Nase jucken ließ. Auf dem gleichen Gleis stand eine Gruppe kleiner Mädchen, die unser Kommen beobachteten. Ich war nicht überrascht, denn es passierte immer wieder, dass Leute stehen blieben, um meine Mutter anzustarren. Sie war schön und glamourös. Ich betrachtete die anderen Mütter, die dort versammelt standen. Keine war so schön wie meine. Die Mütter der anderen Mädchen sahen sehr gewöhnlich aus.
Meine Mutter drückte meine Hand und ich blickte zu ihr auf. Wir tauschten ein verschwörerisches Lächeln aus und warteten abseits der anderen.
Unser Chauffeur folgte uns mit meinem kleinen Gepäck. Er lud es in den Gepäckwagen und winkte mir zum Abschied kurz zu. Dann nickte er zu meiner Mutter hinüber und ging zurück ins Auto, um dort auf sie zu warten und sie dann nach Hause in Potts Point zu fahren. Dort hatten wir eine Wohnung mit einem wunderschönen Blick auf den Hafen von Sydney, den ich mir gerne stundenlang ansah. Ich beobachtete die vielen kleinen und großen Boote, wie sie kamen und gingen und die Schiffe, die zu den Heads oder zu irgendeinem exotischen Ort an der anderen Seite des Ozeans ausliefen. Dann gab es die Sutherland-Flugboote, welche in Rose Baystarteten und landeten. Das Wasser spritzte heftig auf und für kurze Momente verschwanden sie dahinter.
Ein diensteifriger kleiner Mann näherte sich entlang der Plattform mit einer schwingenden Fahne in seiner Hand.
„Achtung“, rief er geschäftig, „alle an Board“, und nochmal mit langgezogener Stimme: „aalllle an Booaard!“
Die Lokomotive gab ein kreischendes Geräusch von sich, welches die Schar der kleinen Mädchen in Hysterie brachte. In großer Aufregung drängelten sie sich um die Zugtür herum. Meine Mutter beugte sich für einen Abschiedskuss zu mir herunter. Ich roch ihren wunderbaren Duft und fühlte das weiche Fell ihres Kragens an meiner Wange. Dann stieg ich ein und fand einen Fensterplatz, sodass ich ihr noch winken konnte. Sie war ein paar Schritte vom Zug zurückgetreten und stand dort ganz alleine. Ich setzte mich hin und wartete und als der Zug endlich losfuhr, winkten wir uns gegenseitig zum Abschied. Als ich sie nicht mehr sehen konnte, schmiegte ich mich in den großen Sitz hinein und ließ die Stadt an mir vorbeiziehen.
Es war ein Teil von Sydney, den ich nie zuvor gesehen hatte. Meine Welt war bis dahin offensichtlich sehr klein gewesen. Wir fuhren an einer Vielzahl von hässlichen und trostlosen Gebäuden vorbei. Dann ging es weiter durch die Vororte Sydneys, bevor wir durch das südliche Hochland tuckerten und dann waren wir auf dem Land. Das war ein toller Anblick für Stadtkinder so wie mich; Kilometer von grünen Feldern und Wiesen mit grasenden Kühen, Schafen und Pferden, die sich in der Ferne erstreckten. Ich liebte die Pferde – sehr elegante Geschöpfe! Wenn sie zu nahe an dem Gleis weideten und der Zug vorbei rauschte, wieherten sie und galoppierten mit hochgezogenem Schweif davon. Einfach schön.
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