Als wir in Burradooankamen, stiegen wir in einen Bus um, der uns durch eine wunderschöne Landschaft fuhr. Wir kamen eine lange Einfahrt hoch, gerahmt von farbenfrohen Blumenbeeten. Am Ende der Einfahrt stand ein riesengroßes Gebäude, das von den Nonnen des Ordens Sacré Coeur geleitet wurde. Es hieß das Convent of the Sacred Heart , das Kloster des Heiligen Herzen, Kerever Park.
Ein paar Nonnen standen zur Begrüßung auf der großen Veranda. Sie trugen lange schwarze Gewänder und eine Kopfbedeckung, die, mit seltsamen Rüschen und einer weißen Haube bestehend, rund um den Kopf ging. An der Haube war ein langer Schleier befestigt. Die neuen Fünfjährigen waren beeindruckt und standen und starrten, bis wir der Reverend Mother , der Ehrwürdigen Mutter, und Mutter McGee, vorgestellt wurden. Mutter McGee war eine kleine, fröhliche und runde Frau mit einem liebevollen Lächeln − eine Mutternatur. Ich verglich sie mit einer Henne, um die sich ihre Küken scharrten. Dann wurden wir für einen Nachmittagssnack in den Speisesaal gebracht. Wir trafen einige der älteren Mädchen, die uns gleich unter ihre Fittiche nahmen und uns unsere Schlafsäle zeigten. Beim Auspacken lernten wir unsere neuen Schlafsaal-Kameradinnen kennen.
Ich war im ersten Schlafsaal untergebracht, der direkt neben einer Kapelle lag. Es war ein schöner langer Raum mit großen Fenstern, die uns leider im Winter viel Kälte einbrachten. Von einem großen Erker konnte man über die enormen Kiefern und die endlosen grünen Felder sehen.
Die Kiefern hatten ausreichend Platz, sich auszubreiten. Ihre unteren Äste wölbten sich bis auf den Boden um den Stamm herum, sodass ein geheimes Versteck für kleine Mädchen entstand, die dort gerne Feen spielten. Der Geruch der Kiefern erinnert mich heute noch an das Klosterinternat Kerever Park.
Im Schlafsaal standen auf jeder Seite sieben Betten, jedes abgetrennt durch ein Nachttisch-Schränkchen, in dem wir unser Hab und Gut lagerten. Die Bettdecken waren farbenfroh. Unsichtbare Personen hatten schon unsere Koffer an unsere Betten gebracht. Irgendwann wurde mir bewusst, dass das die Schwestern waren; die Frauen des Ordens, die alle körperlichen Arbeiten verrichteten und die wir fast nie sahen. Die Situation kam mir nie komisch vor, bis viele Jahre später, als die Hierarchie geändert wurde und es keinen Unterschied mehr zwischen den Müttern und Schwestern gab.
Andere Kinder aus anderen Teilen von New South Wales waren bereits eingetroffen – Mädchen vom Land. Etwas eingeschüchtert lernten wir uns gegenseitig kennen.
Die ersten Tage vergingen ziemlich angenehm, obwohl wir für meinen Geschmack immer zu früh aufstehen mussten – 06:00 Uhr! Ich hatte einen besonderen Groll gegen eine Familie von Elstern, die mich fast jeden Morgen schon sehr früh mit ihrem Gezwitscher aufweckte. Ich stampfte wütend zum Fenster und schimpfte mit dem Groll eines fünf Jahre alten Kindes:
„Du, du, du — ich werde euch umbringen, euer Piepen zu Ende bringen; ich springe aus diesem Fenster, um dich zu töten, dann wird dir dein lautes Piepen leidtun!"
Weil mein Schlafsaal im ersten Stock war, wäre ich mit dem Sprung aus dem Fenster nicht gut davon gekommen. Noch heute empfinde ich den Gesang der Elstern sanfter als den anderer Vögel.
Sobald wir aufgestanden waren, sprachen wir das erste Gebet. Es wurde jedes Mal von einer anderen Nonne geführt und zwar immer von der, die die Aufsicht in unserem Schlafsaal hatte und somit auch bei uns schlief. Danach war Gerangel um die Badezimmer und der Tag des Kicherns und Lachens begann. Zumindest für mich. Viele Jahre später erfuhr ich, dass nicht jedes Mädchen das Leben im Klosterinternat genossen hatte und zu meinem Erstaunen hatten es einige sogar gehasst.
Als wir angezogen waren, geschniegelt und gebügelt, Betten gemacht und unsere eigenen Bereiche aufgeräumt hatten, marschierten wir zum Gottesdienst in die Kapelle. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, betrachtete ich den Gottesdienst als eine schöne Zeremonie; die Wortphrasen lernten wir in Latein. Die Zeremonie strahlte so viel Geheimnis und Magie aus, dass sich sogar das jüngste Kind nicht ablenken ließ. Zumindest bis zur Kommunion, als die Nonnen und die älteren Mädchen ihr Abendmahl einnahmen und der Rest von uns zuschauend und glücklich auf den ungemütlichen Sitzen saß. Unsere zarten Knie bekamen endlich eine Pause von den harten Kniebänken, die nach zwölf Jahren beten tiefe Furchen in meinen Knien hinterließen. Damals gab es in unserem Klosterinternat nur polierte Böden und nacktes Holz.
Nach dem Gottesdienst gingen wir dann, in Reihen und Stille, die prachtvolle Treppe hinunter zum Speisesaal, in dem wir unser Frühstück einnahmen. Wir lernten schnell, dass wir immer aufgereiht und in absoluter Stille von einem Ort zum anderen gehen mussten. Wir durften nur anhalten und weitergehen, wenn das Signal gegeben wurde. Es wurde von zwei Holzstücken gegeben, die die Nonne in ihrer Hand hielt. Die Holzstücke wurden so gehalten, dass ihr Daumen sie trennte und wenn sie ihren Daumen geschickt entfernte, prallten die Holzstücke zusammen und gaben ein lautes Geräusch ab. Klack – stehenbleiben, Klack − weitergehen.
Während der Essenszeiten und nach Beendigung des Gebetes läutete eine Klingel – die Erlaubnis zum Sprechen. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und wir fingen alle zur gleichen Zeit an zu plappern. Neben den Manieren, die wir zu Hause gelernt hatten, lehrten die Nonnen uns, die Bedürfnisse der anderen am Tisch vor unseren eigenen zu erkennen. Außerdem zeigten sie uns, wie Gabel, Messer und Löffel zu halten sind und natürlich nicht mit vollem Mund zu sprechen. Es wurde uns auch beigebracht, gerade zu sitzen. Die Stuhllehnen waren nicht dafür da, um den Rücken anzulehnen. Eine der Nonnen hatte die Aufgabe, mit einem langen Lineal um den Tisch zu laufen und bei jedem Mädchen das Lineal zwischen Rücken und Stuhllehne durchzuziehen, um sicher zu machen, dass keines der Mädchen ihren Rücken ausruhte.
„Sitz aufrecht, liebe Jan!“
Jeder Tisch mit acht Mädchen hatte eine Sprecherin, auch Präsidentin genannt. Sie überwachte den Tisch und stellte sicher, dass jedes Mädchen genug Essen auf dem Teller hatte, bevor sie sich selbst bediente. Als ich das nötige Alter erreicht hatte, um Präsidentin zu sein, wollte ich besonders fair sein. Mit meinem Messer teilte ich die Butter in acht gleiche Portionen auf und reichte diese auf einem Teller herum, im festen Glauben, dass alle damit einverstanden waren. Der Teller wurde herumgereicht, aber keines der Mädchen nahm etwas davon. Sieben vorwurfsvolle Augenpaare schauten mich an, als der unberührte Teller wieder bei mir ankam. Ohne Worte glättete ich die Butterstücke zu einem Klumpen aus, bis dass keine Unterteilungen mehr zu sehen waren und reichte den Teller erneut herum. Die Mädchen lächelten mich befürwortend an und als der Teller wieder bei mir landete, fand ich genau das Stück Butter vor mir, wie ich es haben wollte. Nicht, dass ‘wollen’ bei uns auf der Prioritätenliste stand, aber es war genau so viel Butter, wie ich brauchte. Dieser Butter-Vorfall, wie ich ihn in Erinnerung habe, lehrte mir zwei wertvolle Lebensweisheiten: Erstens, versuche nicht, anderen deine Meinung aufzudrängen. Zweitens, keiner will gleich behandelt werden. Einige wollten mehr von der Butter, andere wollten weniger und zwei Mädchen wollten sogar gar keine. Bis zu meinem Vorfall hatte es niemals ein Problem mit der Butterverteilung gegeben. Die Kinder hatten es ohne fremde Hilfe gelöst und dazu noch ohne Worte. Diese Einsicht war mir mehr Wert als Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.
Im Winter gab es leckeren Haferbrei, in den ich genießerisch einen goldenen Sirup, bestehend aus geschmolzenem braunen Zucker, einrührte. Im Sommer gab es ein gekochtes Ei mit Toastbrot und frische Milch von den Jersey-Kühen, die dem Kloster gehörten. Die Milch blieb frisch, wenn sie drinnen gelagert wurde. Aber wenn sie im Sommer für längere Zeit in der Morgensonne stand war sie für unseren späteren Morgensnack schon angesäuert. Es bedurfte nur eines von uns, diese anekelnde Brühe zu probieren und schon bewegte sich ein Strom kleiner Mädchen mit ihren gefüllten Milchgläsern auf die Hecke zu, um dort ihre Gläser auszuschütten, was nach Jahren dieser Tätigkeit ein ziemlich großes Loch hinterließ. Danach nahmen wir unsere kleinen harten Kuchen und setzten uns auf eine Mauer, um diese zu verzerren, die wirklich so hart wie Stein waren. Als ich Jahre später den gleichen Kuchen in einem Café aß, war dieser wunderbar weich. Also nahm ich an, dass diese steinähnlichen kleinen Kuchen im Internat einen Teil unseres spartanischen Lebens ausmachen sollten. Davon abgesehen sollten diese angeblich unsere Zähne schärfen und Kiefermuskeln stärken. Gerne verfütterte ich meine Steinkuchen an die Elstern oder warf sie einfach in die Hecke, wenn gerade keine Elstern da waren, die die Krümel später aufpickten.
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