Ich war damals außerdem eines der wenigen Kinder, die keine Schokolade mochten. Ich weiß nicht warum, aber ich mochte sie einfach nicht. Das lag vielleicht auch daran, dass mir nur die weniger gute, „billige“ Schokolade zugänglich gemacht wurde oder ich einfach mal ein Stück Schokolade bekam, dessen Verfallsdatum schon beträchtlich überschritten war, und das deshalb nicht schmeckte. Und das prägte lange anhaltend.
Und dann sollte ich mein Gesicht waschen, sooft ich nur konnte. Wahrscheinlich hat‘s nicht gereicht, denn die Pickel gingen einfach nicht weg. Dies zog sich übrigens noch jahrelang hin, bis ins mittlere Erwachsenenalter, bis dann auch die letzten Pickel aus meinem Gesicht verschwanden. Dazwischen lagen noch viele Versuche aller Art, auch medizinische, das Pickelproblem anzupacken. Ich zog von Pontius zu Pilatus und keiner konnte mir helfen, bis dann ein ehemaliger Hausarzt auf die Idee kam, eine Eigenblutbehandlung durchzuführen. Hierzu holt man also etwas Blut aus der Vene, mischt ein Serum dazu und spritzt das ganze wieder irgendwo in den Oberarm, und das jede Woche einmal, in einem Zeitraum bis zu zwei Jahren oder noch länger. Und das hat doch tatsächlich geholfen. Ich glaube zumindest, dass es geholfen hat. Es könnte natürlich auch daran gelegen haben, dass ich das Alter erreicht hatte, an dem das Pickelproblem von alleine zu Ende gegangen wäre. Jedenfalls wurde es von da an besser.
Die Pickel haben mir seinerzeit das letzte Stück Ehre geraubt. Ich wurde unsicher und schüchtern anderen gegenüber. Wo ich in jungen Jahren vor dem Unfall, auf den ich gleich noch zu sprechen kommen werde, derjenige war, der im Kindergarten andere Kinder getröstet hat, Streitigkeiten geschlichtet hat, Kameraden zum gemeinsamen Spiel aktiviert hat, lernbegierig war und offenherzig anderen gegenübergetreten ist, wurde ich nun unsicher, schüchtern, still und zurückgezogen. Das Leben hat mir in jener Zeit einen Dämpfer nach dem anderen zugesetzt, was meine persönliche Entfaltung damals in jeder Hinsicht erheblich gebremst hat.
Die Problematik mit den Pickeln betraf im Übrigen aber nicht nur mich. Das konnte ich im Laufe der Zeit feststellen. Andere hatten auch Pickel und haben sich offensichtlich ebenso wenig ausreichend gewaschen - gemessen an den Empfehlungen, die andere so von sich gegeben hatten. Das mit dem Waschen war jedenfalls ein saudummes Argument!
Die schulische Entwicklung
Dass ich Jana nachtrauerte, lag auf der Hand. Schließlich war sie es, die mir eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl gegeben hatte, geliebt zu werden oder zumindest gern gesehen zu sein, eine Zuneigung, die diesmal nicht von Vater und Mutter kam.
Ist denn nicht noch irgendwo Unterrichtsmaterial aus der fünften und sechsten Klasse, irgendwelche Hefte oder Ordner? Vielleicht finde ich ja auch so eine Zettelnachricht oder ein sogenanntes „Liebesbriefchen“ dazwischen. Goethe hat übrigens einmal gesagt: „Briefe gehören zu den wichtigsten Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“. Wie Recht er damals schon hatte. Die Hoffnung stirbt zuletzt, geht mir durch den Kopf. Vielleicht sind diese Aufschriebe anderswo und ich finde sie später vielleicht. Dann, wenn ich es gar nicht erwarte …
Was mache ich denn hier eigentlich? Habe ich mich vergessen? Was soll denn das? Ich habe die betreffende Zeit längst hinter mir gelassen. Wieso hänge ich denn nun diesen beendeten Geschichten hinterher? Ich beginne, mit mir selbst zu hadern. Was überhaupt bewegt mich denn an dieser Sache so sehr? Was hat Jana an sich, das mich jetzt schon wieder so sehr vereinnahmt?
Ich muss feststellen, dass ich seit dem Aufflammen dieser Erinnerungen aufgewühlt bin, einen Energieschub erhalten habe und dass sich meine Gedanken immer wieder um Jana und um die Erinnerungen an die damalige Zeit kreisen. Nur, wie löse ich mich aus dieser Gefangenschaft?
In der Abarbeitung und Durchsicht meiner Schulunterlagen nähere ich mich zumindest chronologisch einmal dem angedachten Zeitabschnitt. Vor mir liegt noch der Ordner mit den Unterrichtsaufschrieben, Übungen und Klausuren aus der Zeit vor der Oberstufe. Irgendwo hier drin finde ich vielleicht noch etwas, das mich diesen Ereignissen von früher näherbringt. Bevor ich mich nun aber von der Situation ganz einnehmen lasse, beschließe ich, die Durchsicht der Ordner für heute zu beenden. Ich muss feststellen, dass es mir gar nicht mehr alleine darum geht, wie ursprünglich beabsichtigt, einen möglichen Geldschein zwischen den Unterlagen zu finden oder vielleicht eine Zeichnung. Nein, inzwischen geht es mir überwiegend darum, etwas zu finden, das meine Gefühle und Emotionen bestätigt, etwas, das auf die Zeit mit Jana und auf den Kontakt zu ihr damals hindeutet.
In den darauffolgenden Tagen ist es mir aus zeitlichen Gründen nicht möglich, im Elternhaus weiterzuarbeiten. Ich hoffe, deshalb auch wieder etwas Abstand zu diesen Gedanken, die mich zugegebenermaßen mehr beschäftigen, als ich gerne zugeben würde, zu gewinnen. Aber weit gefehlt! Ich bin nach wie vor aufgewühlt; so sehr wie schon lange nicht mehr. Die verschwommenen und unvollständigen Bilder von früher gehen mir ständig durch den Kopf. Mein Gedächtnis versucht, die Geschehnisse aufzuarbeiten und längst vergessene Bilder in Erinnerung zu rufen. Jetzt dreht sich alles irgendwie nur noch um Jana. Ich stelle fest, dass erhebliche Lücken in meinen Erinnerungen vorhanden sind, die ich gerne schließen würde und gehe deshalb in meinen Gedanken noch weiter zurück, um vielleicht an noch ältere Erinnerungsfetzen anknüpfen zu können. Was ging denn nun diesen Geschehnissen voraus?
Bei dieser Überlegung schweife ich etwas ab und versuche herauszufinden, ob ich überhaupt in der Lage bin, mich derart weit zurückzuerinnern. Was ist meine älteste Erinnerung, wie weit reichen meine Erinnerungen überhaupt zurück? Und wie ging‘s dann weiter?
Es gibt vier älteste Erinnerungen, bei denen ich noch eine zeitliche Zuordnung machen kann. Das eine ist eine Szene auf einem Parkplatz bei der Fahrt zur Schwester meines Vaters. Im Alter von etwa vier Jahren, vielleicht auch fünf, hatte ich eine „Lurchi“-Figur, mit der ich gespielt hatte. Diese hatte ich im Schuhgeschäft geschenkt bekommen, in dem wir uns alle mit Fußbekleidung eindeckten. Es handelte sich dabei um einen schwarz-gelben Molch aus einem Comicbuch, das von einer sehr namhaften Schuhmarke früher zusätzlich zu den Schuhen vertrieben wurde. Neben anderen Figuren aus diesen Geschichten gab es eben auch diesen „Lurchi“ als Püppchen. Und ihn habe ich an diesem Parkplatz verloren oder vielmehr nur dort liegen lassen, wie das Kinder halt manchmal so machen. Das war dann aber sehr tragisch, weil der ganze Besuch bei der Tante geprägt war von diesem Verlust. Meine Erinnerung ist nun jene: Ich sitze auf dem Rücksitz im Auto meiner Eltern und stelle fest, dass das Püppchen fehlt, und das nur kurz nachdem wir vom Parkplatz weggefahren sind. Meine Eltern waren allerdings der Meinung, dass jetzt nicht nochmal umgedreht würde, nur um diese Figur zu holen.
Die andere Szene spielt ebenso unterwegs: Wir waren zu Besuch bei Mutters Cousinen und sonstigen Verwandten und ich spielte mit den Kindern von dort am Sandhaufen, der sich wegen dortiger Bauarbeiten auf dem Hausvorplatz befand. Das war ein tolles Erlebnis. Eine ganz andere Gegend, in der ich zuvor noch nie war. Mit sehr sympathischen Kindern, die ich bis dahin noch nicht kannte. Und Spielsachen, die ich zu Hause nicht hatte. Vor allem nicht diesen Sandhaufen und auch nicht diese Spielkameraden.
Und noch eine älteste Erinnerung von einem Besuch bei einer anderen Schwester meines Vaters, übrigens gleichzeitig auch in seinem elterlichen Haus, das mittlerweile unter Denkmalschutz steht. Damit ich nicht die gefährlich anmutende Treppe zum Dachboden bestieg, wurde ich vom Onkel immer gewarnt: „Da oben ist ein gaaanz gefährlicher Hund, der dich beißt und frisst, wenn du da nach oben gehst.“ Ich hab‘s nie geglaubt, habe dann aber dennoch Folge geleistet und bin unten geblieben.
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