Anfang der siebten Klasse begann für mich erneut ein neuer Abschnitt in meinem Schülerleben. Mein neues Zuhause war ein Internat. Dies war ein erneuter Versuch, mich in eine Umgebung zu bringen, wo davon ausgegangen werden konnte, dass leichter Freunde zu finden sind, beziehungsweise Freundschaften leichter geschlossen werden können.
Der Zusammenhalt der Internatsschüler war von vornherein ein ganz anderer. Jeder war zunächst alleine und sich selbst der Nächste. Keiner der Neuen kannte einen anderen. Somit war jeder zunächst unvoreingenommen dem anderen gegenüber. Kameradschaften standen hier nichts im Wege.
In den Schlafräumen standen sechs Betten mit jeweils einem Schrank und einem offenen Regal oberhalb des Kopfteils. Zu Bad und Toilette musste man den Flur entlanggehen. Diese sanitären Einrichtungen waren nur für die Bewohner DIESES Hauses gedacht, also für uns Jungs. Auf dem Gelände des Internats standen nämlich noch weitere Gebäude. In einem der anderen Häuser waren die Mädchen untergebracht, die logischerweise ihrerseits wieder über eigene sanitäre Einrichtungen verfügten. Frühstück, Mittagessen und Abendbrot gab es für alle gleichermaßen im Speisesaal, wieder in einem anderen Gebäude. Nach der Schule und an schulfreien Tagen traf man sich in sogenannten Betreuungs-Gruppenräumen in einem weiteren Gebäude. Die Gruppen waren eingeteilt in Ober-, Mittel- und Unterstufe, ggf. sogar in einzelnen Klassen. Für jede Gruppe gab es einen eigenen Betreuer. Dieser hatte aber nicht nur bei den Hausaufgaben zu helfen. Er hatte fast die Funktion eines Elternteils: Termine für die Schüler zu überwachen und generell dafür zu sorgen, dass diese auf ihre Arbeiten lernten und ihre Hausaufgaben ordentlich machten. Gemeinsame Aktionen wurden geplant, wie beispielsweise abends mal grillen oder eine Schnitzeljagd machen oder miteinander Eis essen gehen und so weiter. Und ich hatte Klavierunterricht einmal pro Woche. Für diese Zeit war ich entschuldigt in der Gruppe.
Die Schule befand sich nicht auf dem Internatsgelände. Die Gymnasiasten besuchten das öffentliche Gymnasium der Stadt, die Realschüler entsprechend die öffentliche Realschule. Der Schulweg bedeutete für mich etwa fünfzehn Minuten Fußmarsch eine Strecke, also eine machbare Sache.
Während der Zeit im Internat habe ich versucht, mit Jana den Kontakt aufrecht zu erhalten. Handy, Smartphone, Computer und Co. gab es damals noch nicht. Über größere Distanzen hat man sich deshalb als Schüler mit echten handgeschriebenen Briefen im Postversand verständigt. Ich kann mich erinnern, dass mir Jana ein oder zwei Mal auf meine Briefe geantwortet hat.
Neben den zu erwartenden „guten“ Freundschaften entwickelten sich im Internat bald auch die „negativen“. Da wurde nur vordergründig eine Freundschaft vorgetäuscht, tatsächlich wurde man bestohlen, betrogen und hinters Licht geführt. Hinzu kam, dass sich die Heimleitung einen feuchten Dreck darum scherte, was die Heimkinder untereinander auszustehen hatten und was da hintergründig und nach außen völlig unbemerkt lief. Aufgrund dieser Probleme, die das Internatsleben so mit sich brachte, und des ausbleibenden Erfolgs bei der Verbesserung der Noten erwogen meine Eltern, mich doch wieder nach Hause zurück zu holen. Von da an, also nach etwa fünf Monaten Internatsleben, durfte ich also wieder heimkehren. Und ich sollte wieder in meine alte Klasse gehen. Ich MUSSTE also wieder zu Holger in die Klasse zurück, der mir das Leben zuvor schon schwergemacht hatte, und ich DURFTE wieder dahin zurück, weil ich dann wieder in der Nähe von Jana war. Ich hatte wohl verdrängt, dass sie von mir nichts mehr wissen wollte. Die Enttäuschung war dementsprechend groß. Aber ich hab’s offensichtlich überlebt, was blieb mir auch anderes übrig. Am Ende der siebten Klasse verließ Jana diese Schule und wechselte selbst in ein Gymnasium mit künstlerischer und musikalischer Ausrichtung. Ab diesem Zeitpunkt verloren wir uns aus den Augen.
Einige Jahre später habe ich Jana noch einmal in den Straßen unserer Stadt beim Einkauf gesehen. Sie huschte an mir vorbei, als ob wir uns nicht kennen würden. Es ist schon möglich, dass Sie mich nicht gesehen hatte. Ich jedenfalls hatte nicht den Mut (schon wieder nicht), ihr einfach „hallo“ zu sagen, denn ich vermutete zunächst, dass sie mich doch erkannt haben müsste und dennoch weiterlief. Daraus folgernd nahm ich an, dass sie von mir noch immer nichts wissen wollte und demzufolge auch keinen Kontakt mehr pflegen mochte. Ich unterlasse lieber meine Kontaktversuche, bevor sich andere durch mich genervt und belästigt fühlen, wenn sie sich dann notgedrungen mit mir unterhalten müssten. Das war meine damalige Überlegung. Nach diesem Motto habe ich in den ganzen folgenden Jahren auch bei anderen Bekannten in ähnlichen Situationen gehandelt und bin dabei in der Regel nicht schlecht gefahren. Da habe ich wohl eine Verhaltensregel gelernt.
Am Ende der neunten Klasse habe ich dann endgültig diese Schule verlassen, in der ich mir mit Mitschülern so schwergetan hatte, und bin auf eine berufsfachgebundene Schule gewechselt, die ich zwei Jahre später mit der Prüfung zur Mittleren Reife erfolgreich abschloss. Ab dem ersten Tag in der neuen Umgebung habe ich Ruhe gefunden und konnte mich verstärkt auf den Unterrichtsstoff konzentrieren. Und meine Noten wurden besser. Darüber hinaus haben sich in dieser Zeit dann auch Freundschaften entwickelt. Ich war ausgeglichener als je zuvor und konnte mich auf meine eigentlichen Aufgaben besinnen. Keine schlägernden und mich ärgernden Mitschüler waren mehr um mich herum; es begann ein neues Leben. Von da an sah ich die Sonne wieder am Himmel scheinen, und auch ich durfte nun endlich erfahren, dass das Leben seine schönen und positiven Seiten haben kann.
Es entwickelten sich plötzlich Freundschaften, echte Freundschaften, wie ich sie bis dahin so noch nicht hatte. Und weil sich darüber hinaus die Noten besserten, fand ich auch Gefallen am Lernen und tatsächlich auch an der Schule. Das war dann auch der Grund, warum ich nach der Mittlere-Reife-Prüfung bis zum Abitur weitergemacht hatte. In jener Zeit hat sich dann meine Kreativität ebenfalls weiterentwickelt. Ich hatte ja auch noch so viel nachzuholen.
Wenn ich das alles nun so rückblickend betrachte, möchte ich meinen, dass es von da an der Schrei nach Leben war. Endlich konnte ich mich freier bewegen, endlich brauchte ich mich nicht mehr den von anderen auferlegten sinnlosen Diktaten und Schikanen in Unterwürfigkeit fügen. Ich hatte jetzt die Möglichkeit, mich zu entfalten. Und es ging plötzlich alles so einfach. Zudem hat sich meine künstlerische Begabung weiterentwickelt. Sowohl in der Musik als auch in der bildenden Kunst. Aber das hatten wir ja schon.
Die Erinnerung ist schon eine seltsame Einrichtung bei uns Menschen. Durch schöne Erinnerungen werden wir motiviert, und schlechte Erinnerungen ermöglichen uns, Lehren zu ziehen. Das Ziel ist in beiden Fällen ein positives. Alle anderen Erinnerungen werden im Laufe der Zeit ausgeblendet. Damit behalten wir den Kopf frei für die wirklich wichtigen und die motivierenden und positiven Dinge im Leben, die uns nach vorne bringen. Letztendlich ermöglicht uns dies den persönlichen und, im weiteren Verlauf durch Teamwork und gemeinsame Projekte, auch den gesellschaftlichen Fortschritt.
Doch zurück ins derzeitige Leben: Ich finde noch einige Zeichnungen und lege sie auf den Blätterstapel, den ich für mich beiseitelegen und für später einmal aufheben möchte. Inzwischen habe ich natürlich damit begonnen, Ordner und Hefter detaillierter zu durchsuchen. Allerdings sind diese nicht chronologisch sortiert, sodass sich alle Unterlagen nun kreuz und quer vermengen. Zwischendurch finden sich Schriftstücke aus der Zeit meiner Berufsausbildung nach dem Abitur, dann aus der Mittelstufe und wieder Dinge, die zum Lehrstoff des Gymnasiums gehören. Das macht aber nichts, alles wird durchsucht. Und das ist auch gut so. Ganz interessante Dinge finde ich, zum Beispiel auch ein von mir verfasstes Gedicht:
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