Aber es gab auch einen Widersacher in der Klasse. Er war kleiner als ich, hatte glattes, blondes Haar, war rotzfrech und mein größter Feind. Es gab nichts, das er unversucht ließ, um mich in Misskredit zu bringen oder generell mich zu diskriminieren. Nahezu täglich gab es Hänseleien und Mobbingattacken mir gegenüber in jeder nur denkbaren Art und Weise. Insbesondere dann, als er merkte, wo und wie man mich am besten verletzen konnte. Und ich war natürlich so blöd und habe auf seine Sticheleien genau so reagiert, wie er es haben wollte, nämlich als Unterlegener, als derjenige, der vorzeitig im Streit das Handtuch schmiss und aufgab.
Das kam nicht von ungefähr. Genau so wurde ich nämlich auch erzogen. Nach christlichen Grundsätzen. Nein: nach katholischen! Mutter legte da sehr viel Wert darauf, dass ich KATHOLISCH erzogen wurde. Der sonntägliche Gang zur Kirche war Pflicht und das, was gepredigt wurde, sollte strengstens beachtet werden! Es ging ihr also nicht nur darum, zu verstehen, sondern das Gehörte auch zu leben, am besten so, wie es gepredigt worden war und nicht anders. Und das auf Teufel komm‘ raus.
Und der kam. In Form dieses blonden Giftzwergs, der mir keine frohe Minute mehr gönnte. Ich weiß heute noch nicht, warum gerade ich das Opfer für den Terror war, den er verübte. Andere Schüler waren, soweit ich das in Erinnerung habe, nicht von seinen Attacken betroffen.
„ Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die linke hin (Matthäus 5, 39)“. Nach diesem biblischen Motto habe ich mich dann auch verhalten und viele „blaue Wunder“ erlebt! Ich wollte dann auch sterben wie Jesus. Vielleicht nicht am Kreuz, aber ich wollte in gleicher Weise verraten und gelyncht werden, um damit ein Exempel zu statuieren, damit ich meinem Widersacher, nennen wir ihn Holger, eins auswischen kann, in der Hoffnung, dass dieser daraufhin verhaftet werden würde und dafür bezahlen müsste, für das, was er mir angetan hatte. Und ich wollte der Nachwelt zeigen, dass die Gesellschaft um mich herum den Teufel, in gleicher Weise wie bei Jesus, gewähren ließ und mich durch Untätigkeit und Hilfeverweigerung dem Tod auslieferte.
Welch hirnrissige Vorstellung ich doch damals vom Leben hatte … Und ich vermute, dass das nur von der Erziehung kam, die ich genießen musste. Und hatte ich denn eine Wahl? Vielleicht hätte ich mich einmal bei anderen Eltern bewerben sollen! Ich glaube, es verging kein Tag, an dem ich nicht eine dieser Attacken von Holger ertragen musste. Und die Schwäche, die ich ihm gegenüber zeigte, stärkte ihn in seinem Tun und motivierte ihn nur noch mehr in seinem Handeln. Letztendlich also war ich eigentlich selbst schuld an dieser Situation – oder der Glaube, den man mich lehrte und die Erziehung von zu Hause und der Unfall, der das ganze Schlamassel am Anfang meiner schulischen Laufbahn ausgelöst hatte, auf den ich später noch einmal zu sprechen komme.
Die Tatsache, dass ich den Märtyrer spielen wollte, brachte mir bei Jana auch nicht gerade besonders große Sympathien ein. Dass sie dann aber ausgerechnet mit meinem Widersacher zu flirten begann, war für mich überaus schmerzhaft. Dieser seelische Schmerz tat mehr weh als die verbalen Entgleisungen, Tritte und Schläge, die ich von Holger ohnehin ertragen musste. Zumindest ließ er mich glauben, dass Jana mit ihm und er mit ihr flirtete und die beiden sozusagen miteinander gingen, und das setzte mir schon extrem zu.
Der Rest der Klasse hielt sich aus diesem Konflikt eigentlich heraus. Ich glaube, jeder wusste Bescheid. Einerseits wollte keiner dem anderen schaden und andererseits wollte auch niemand in den Konflikt mit hineingezogen werden. Irgendwie, so hatte ich das Gefühl, hatte aber gerade der mit dem größten Maul doch den größeren Rückhalt bei den anderen. Und das war halt nun mal nicht ich, sondern Holger.
Ich fühlte mich wie Charlie Brown von den Peanuts, nur dass Charlie Brown wenigstens noch seinen Hund Snoopy hatte und den zweitbesten Freund Linus, den mit der Schlafdecke. Aber vielleicht hatte ich ja noch das Zeug zu einem großen Star; in gleicher Weise wie Charlie Brown, der davon auch immer geträumt hatte.
Zuerst ging Siegfried, dann verlor ich Jana. Und trotzdem war ich nicht alleine! Das stimmt, ich fühlte mich nur so. Warum nur? Dass die anderen ja auch noch da waren, das war für mich zum damaligen Zeitpunkt nicht relevant. Ich war jetzt zu sehr mit dem „Verlust“ von zwei Freunden beschäftigt. Wir waren über zwanzig Jungs und Mädchen in der Klasse, und es gab noch mehr Sympathien untereinander, auch mir gegenüber, das wusste ich, das habe ich auch bemerkt, aber ich hatte nicht das geringste Interesse, mich alternativ damit zu begnügen. Stattdessen trauerte ich Jana hinterher. Was war ich bescheuert! Katrin wäre sicherlich auch keine schlechte Partie gewesen. Nein, ich wollte an Jana festhalten. Und dieses Verhalten war für mich auf Dauer fatal. Ich habe mich immer mehr nach Jana „kaputt“ gesehnt. Es lässt sich überhaupt nicht beschreiben, wie mich das ganze psychisch fertiggemacht hat. Das war übrigens so die Zeit, in der ich alle möglichen Zustände bekam: Begonnen beim Bauchweh ohne Grund, über unzählige Pickel im Gesicht, bis hin zu Angstzuständen und Alpträumen.
Schweißgebadet lag ich manchmal im Bett und brüllte wie am Spieß: „MAAAMAAA!“ Zuvor war mir aufgelauert worden, und als ich den Hinterhalt bemerkt hatte, kam ich nicht mehr vom Fleck weg. Wie gern wäre ich weggelaufen, aber ich konnte einfach nicht. Es war unmöglich, der drohenden Gefahr zu entkommen. Und die Verbrecher kamen alle immer näher und näher und am Ende ganz bedrohlich so nah, dass ich daran dann aufgewacht bin! Diesen Alptraum habe ich so oft geträumt. Tatort: Um unser Haus rum, im Vorgarten, auf der Straße vorm Haus. Die Bedrohung war im grunde zuhause.
Den folgenden Traum habe ich auch sehr häufig geträumt: Auch hier wieder der Tatort das Zuhause, diesmal aber im Haus drinnen. Ansonsten ein ähnlicher Sachverhalt: Im Haus konnte ich mich zunächst einmal verstecken, aber die Bedrohung kam dennoch immer näher und fand mich letztendlich doch. Mir geschah dann nichts, weil ich aufwachen durfte. Aber das waren alles andere als gemütliche und schöne Träume.
Und Pickel! Ach, die könnten natürlich auch daran schuld gewesen sein, dass mich niemand mochte. Ich sah aus wie ein Streuselkuchen. Kleine rote Pusteln überall im Gesicht mit teils richtig ekligen Eiterbläschen, die manchmal platzten. Dann lief zuerst der Eiter raus und später Blut. Klar, wer will sich schon mit so einem abgeben? Wer mag so jemanden? Wer will so jemanden denn überhaupt küssen oder auch nur in den Arm nehmen? Und außerdem: Warum traf denn immer mich das Unglück?
Dass ein Pickel auch manchmal schmerzt, wäre sicherlich noch verkraftbar gewesen. Aber die damit einhergehenden negativ geprägten designerischen Begleiterscheinungen im Gesicht machten das Leben erst richtig zur Hölle. Nach dem morgendlichen Aufstehen verging mir schon die Lust, wenn ich das erste Mal am Tag in den Spiegel blickte und feststellen musste, dass bereits wieder zwei neue Pickel heranwuchsen. Ein Übel kommt offensichtlich selten allein. Das war damals wohl auch so. Ja, ich kam mir vor wie ein Aussätziger. Mitleidige Blicke an der Bushaltestelle, im Bus, beim Einkaufen und, und, und.
Zunächst bekommt man von allerlei Personen aus dem eigenen Umfeld Ratschläge, wie das Problem angepackt werden könnte: Ich solle alle halbe Stunde mein Gesicht waschen und auf Schokolade sei strengstens zu verzichten! Dann wurde mir empfohlen, die Pickel wachsen und von alleine austrocknen zu lassen; denn sie auszudrücken würde Narben geben. Das stimmt außerdem tatsächlich. Jahre später wurden von einem Hautarzt vorsichtig meine Pickel aufgeritzt und ausgedrückt. Das war nicht nur schmerzhaft, sondern hinterließ dann tatsächlich ganz hässliche Narben. Und außerdem sollte ich auf scharfe Sachen verzichten! In meinem jungen Alter konnte sich der Begriff „scharfe Sachen“ nur auf Nahrungsmittel beziehen. Da mein Vater ein Nierenproblem hatte, konnte Mutter nie scharf kochen. Also brauchte ich nicht explizit auf Scharfes zu verzichten, da ich dies ohnehin schon mein Leben lang getan hatte - bis dahin und im Übrigen auch darüber hinaus.
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