Das ist bestimmt für Insekten normal, aber mich macht die Geschichte traurig.
„Hier gibt es aber keine Eichen, gehen andere Bäume auch?“ Sie nickt zögernd.
„Ja, manche, aber bei Eichen sind die Chancen, dass ein paar Kinder überleben, am Größten. Wir haben auch nicht mehr viel Zeit, vielleicht noch vierzig Tage. Deshalb ist der Sturm auch so lästig, er hält uns von der Suche ab.“ Dazu kann ich nichts sagen, daher frage ich sie.
„Möchtest Du vielleicht jetzt etwas essen?“
Sie lehnt ab.
„Ich warte, bis mein Mann fertig ist, und esse dann die Reste der Beeren. Er leckt ja nur den Saft auf, und es wäre doch schade, sie wegzuwerfen.“
Benedikte erregt meine Aufmerksamkeit sie hat gerade wieder eine Vision, sie starrt kurz ins Leere. Einen Moment später sieht sie Hedwig an und sagt.
„Du musst nach Nordwesten gehen, da gibt es viele Eichen. Fünf Deiner Kinder werden Überleben.“ Hedwig bricht in Tränen aus.
„Stimmt das? Ganze fünf? Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt.“ Ich antworte ihr.
„Ja, meine Tochter ist ein Orakel, eine Seherin. Alles was sie sagt, trifft auch ein.“
„Dann danke ich Dir von ganzem Herzen, Tochter von Maxi, das sind wunderbare Voraussagen.“ Hedwig scheint glücklich zu Lächeln, obwohl man das bei einem Hirschkäfer nur schwer erkennen kann.
*
Bene schrie gegen den Wind an.
„Bellusa, komm endlich rein, ich muss den Eingang verschließen.“
„Wenn ich los lasse, werde ich weggeweht.“ Bellusa traute sich nicht, den Zweig loszulassen, an dem sie sich gerade festhielt. Sie verstand zwar nicht, was Bene sagte, aber was er meinte, schon. Sie wusste, er wollte alles dicht machen, eigentlich wartete er nur auf sie, und sie konnte nicht loslassen. Eine vertrackte Situation, was sollte sie nur tun?
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Eine Windbö warf eine paar Ästchen und Blätter auf sie und sie verlor den Halt. Sie wurde Richtung Nussbaum geschleudert, und wäre daran vorbei geflogen, hätte Bene sie nicht am Bein erwischt. Er zerrte und zog, bis er sie aus dem Wind hatte. Gemeinsam rannten sie schnell hinein und verstopften das Eingangsloch. Sie setzten sich an den Brunnen zu Auruma, und hörten dem Sturm zu.
*
Der Sturm ist heftig, keiner wagt den Bau zu verlassen. Immer wieder fliegen Gegenstände herum, einige landen im Bambus, andere auf unserem Dach.
Wir ziehen uns aus Sicherheitsgründen, in den Erdbau zurück. Hedwig und Wolfram passen in keine der Wohnhöhlen, deshalb bleiben sie im Tunnel, der höher und breiter ist.
Dieser wirklich heftige Frühjahrssturm wütet zwei ganze Tage lang, während dieser Zeit ist es unmöglich hinaus zu gehen. Dann bricht er unerwartet ab.
Vorsichtig wagen wir uns aus dem Erdbau in die Halle, auch hier ist es ruhig, der starke Wind scheint verschwunden zu sein. Cito geht nach draußen, um nachzusehen. Als er zurückkommt, berichtet er.
„Es ist weniger passiert, als man meinen würde, die hohen Gräser sind gekickt, Äste abgebrochen und hier am See direkt, hat die große Distel dran glauben müssen. Es liegt auch viel Unrat herum, aber nichts, was sich nicht beseitigen ließe.“
Das erleichtert mich, uns alle. Hedwig will wissen, ob sie schon weiterfliegen können. Ich bitte sie noch etwas zu warten, wenigsten diese Nacht noch, bevor sie nach Nordwesten fliegen. Sie ist einverstanden.
„Dann kann sich mein Wolfram noch satt essen, damit er Kraft für den Flug hat. Sein Geweih ist ganz schön schwer zu tragen.“
Hedwig und Wolfram haben beide Wasser aus dem See getrunken, ich weiß nicht was für Auswirkungen das auf Insekten hat. Ob ihr Leben auch verlängert wird, wenn ja, habe ich eine große Verantwortung übernommen. Ich schätze, sie können den Winter nicht allein überleben. Ich muss es ihnen erklären, und sie nach der Eiablage hierher einladen, um zu sehen, ob sie weiter leben, als bis zum achten Mond. Am nächsten Morgen fliegen sie ab, und versprechen wiederzukommen.
Hedwig hat es sehr gefasst aufgenommen.
„Was kann uns schon Schlimmes passieren, wir würden sowieso bald sterben. Wenn es stimmt, was Du sagst, habe ich vielleicht die Chance, eines meiner fünf Kinder, oder sogar alle, zu sehen. Das ist noch keinem Hirschkäfer je gelungen. Also mach Dir keine Sorgen um uns, wir werden einfach wiederkommen und abwarten, zu essen habt ihr ja genug.“ Danach erheben sie sich in die Luft. Wir blicken den Beiden nach, bis sie nicht mehr zu sehen sind.
Ich hoffe beinahe, das der See auch bei ihnen eine Lebensverlängerung bewirkt, es gibt nur noch so wenige von ihnen. In den vielen Tagen meines Lebens, waren das die ersten Hirschkäfer, die ich je gesehen habe. Selbst Hedwig hat, außer Wolfram, nie einen ihrer Artgenossen getroffen. Sie dürfen nicht aussterben, das ist einfach nicht richtig.
*
Wir beseitigten die Verheerungen des Sturmes, so gut es geht. Dabei bekommen wir unerwartete Hilfe. Die Menschen räumen die großen Gegenstände weg, die am und im See liegen, schneiden die umgeknickten Pflanzen ab und klopfen die Palisaden fest. Leider haben sie keine gute Meinung von uns, sonst hätte ich mich gezeigt, um mit ihnen zu reden. Aber ich fürchte, diese Zeit ist noch nicht gekommen. Vielleicht kommt sie auch nie, deshalb verstecken wir uns im Bau und warten bis die Menschen fertig sind.
*
In der Herberge selbst war nichts passiert, auch der Nussbaum hatte es gut überstanden, aber ein paar der Sonnenblumen waren umgeknickt. Bene, Auruma und Bellusa sammelten so viele Kerne wie möglich, sie würden im Winter sehr hilfreich sein. Unterbrochen wurden sie von den Menschen, die nun selbst daran gingen, die Sturmschäden in ihrem Nutzgarten zu beseitigen. Also flüchteten sie in ihr Heim zurück und machten es sich am Brunnen gemütlich. Sie hatten vier Schüler im Moment, aber mit denen war heute nicht mehr zu rechen. Bene hatte sie mit Sonnenblumenkerne, für ihre Familie, nach Hause geschickt.
„Das bin ich gar nicht mehr gewohnt, diese Ruhe, ist ja fast schon unheimlich still hier drin,“ stellte Bene fest. Er setzte sich bequemer hin und putzte sich ausgiebig. Joana und Anorex waren bei Maxi zu Besuch, oder wahrscheinlich eher bei Custos.
„Jemand zu Hause?“ Ein Besucher am Eingangsloch unterbrach seine Gedanken. Er erhob sich und ging nachsehen. Vor ihm stand eine kleine ältere Feldmaus, die ihn ein bisschen an Custos erinnerte. Das lag wahrscheinlich daran, dass dies erst die dritte Feldmaus war, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Außer Sieglinde und Custos kannte er keine.
„Was kann ich für Dich tun?“
„Mein Name ist Deumtineo, der Gottesfürchtige. Ich bin Priester und glaube an den einen Gott, und seinen Gegenspieler den Teufel. Ich möchte sein Wort verbreiten und bitte um Einlass.“ Bene hatte noch nie etwas von diesem Gott gehört.
„Tut mir leid, aber Deinen Gott kennen wir nicht. Wir glauben an MUS, die Göttin der Mäuse.“ Deumtineo sah ihn verwundert an.
„Ihr glaubt an eine Frau? Wie kann das sein?“
„MUS hat sich immer um uns gesorgt, uns geholfen und uns das Wasser des Lebens geschenkt. Und was hat Dein Gott für Dich getan?“ Bene ging dieser Deumtineo auf die Nerven, besonders weil er so abfällig von MUS gesprochen hatte.
„Mein Gott lehrte mich, ihn zu ehren und zu fürchten. Niemand liebt ihn mehr als ich, und deswegen will ich sein Wort verbreiten.“ Jetzt reichte es ihm.
„Aber bitte nicht bei uns, wir wollen unsere Ruhe. Und, wir haben wie gesagt schon eine Göttin, Deinen Gott brauchen wir nicht.“ Bene war etwas rüde zu diesem Kerl, aber er sollte rasch wieder gehen. Dieses Geschwafel von seinem Gott, dafür hatte er jetzt keine Nerven, nein, er wollte sich in Ruhe weiter putzen.
„Seid ihr etwa langlebig, habt ihr Euch dem Teufel verschrieben?“ Bene musste an sich halten.
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