1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Plötzlich zuckt Bellusa zusammen. Sie setzt zum Pfeifen an, aber ich unterbreche sie. Vor uns steht Hedwig und grinst schelmisch.
„Eine neue Maus, ha, die kennt uns noch nicht, wir tun Dir nichts.“ Ich muss unwillkürlich lachen, ich liebe es, wie Hedwig sich immer ausdrückt.
„Darf ich Euch Hedwig vorstellen, sie und ihr Mann werden den Winter hier verbringen. Sie sind einige der wenigen Hirschkäfer, die es noch gibt.“ Ich lächle Hedwig verschwörerisch zu. Bellusa hat sich aber schnell von ihrem Schreck erholt und begrüßt Hedwig freundlich.
„Es freut mich, Dich kennen zu lernen, Hedwig. Bitte verzeih, ich habe noch nie einen Hirschkäfer gesehen.“
„Kein Problem, „ antwortet Hedwig daraufhin, „Sei froh, dass Du nicht als erstes meinem Mann begegnet bist, der ist wirklich beeindruckend und viel größer als ich. Da hättest Du Dich vielleicht erschrocken.“ Sie lacht fröhlich, es ist ein ansteckendes Lachen und man muss automatisch mitlachen, das Eis ist gebrochen.
„Ich möchte zum See, Ihr etwa auch? Dann können wir ja zusammen gehen.“ Hedwig Hirschkäfer dreht sich um, und geht los, und wir Mäuse folgen ihr.
*
Der unterirdische See sieht wirklich beeindruckend aus, ganz in grünes Licht getaucht. Hier herrscht eine angenehme Temperatur, nicht zu warm und nicht zu kalt. Mutter und Custos liegen am Ufer und unterhalten sich. Als sie uns sehen, setzen sie sich auf um Hallo zu sagen. Hedwigs Anblick sind wir inzwischen alle gewohnt, keiner zuckt mehr zusammen.
„Bene, mein Sohn, was für ein erfreulicher Anblick. Und Du hast Deine Frau und Bellusa mitgebracht. Willkommen, meine Lieben.“ Mutter begrüßt sie herzlich, die Freude ihren Sohn und seine Familie zu sehen, ist offensichtlich. Wir alle trinken aus dem See und lassen uns dann neben Custos am Ufer nieder.
„Was macht der Nussbaum?“ Fragt Custos. Bene setzt sich ebenfalls.
„Er ist noch kräftig, der Sturm im siebten Mond hat nur einige abgestorbene Äste abgerissen, sonst ist nichts passiert, MUS, sei Dank.“ Custos nickt zustimmend.
„Ja, er ist jetzt schon viele Tage alt, aber scheint immer prächtiger zu werden. Ich sehe oft zu Euch hinüber, dann denke ich immer an meine kleine Quelle des Lebens, die ich so lange behütet habe. Ach, entschuldigt, ich werde sentimental.“
Das kann jeder von uns verstehen, er hat seine Quelle über dreitausend Tage behütet. Ein bisschen Sentimentalität finde ich völlig normal.
„Was macht Anorex im Moment? Und wie geht es Joana?“ Die beiden liegen Custos am Herzen. Aber sind sind im Nussbaum geblieben. Sie wechseln sich immer ab, bei ihren Besuchen, so dass die Herberge niemals leer steht.
Wir unterhalten uns angeregt, es gibt immer viel zu berichten. Am See ist es sehr gemütlich und wir reden und trinken, und trinken und reden. Da wir uns fast dreißig Tage nicht mehr gesehen haben, geht uns der Gesprächsstoff nicht aus. Irgendwann steht Mutter auf.
„Nun, ich habe Hunger, wie sieht es bei Euch aus, wollen wir etwas essen gehen?“ Plötzlich bemerkt jeder seinen knurrenden Magen, und wir begeben uns in die Halle, um eine schöne gemeinsame Mahlzeit einzunehmen.
Beim Essen zählen wir auf, was wir bis jetzt erreicht haben.
„Eine sehr gute Ausbildung für alle Mäuse,“ sagt Mutter. Custos gibt ihr recht und fügt hinzu.
„Ein sehr langes Leben für alle.“
„Weniger Kinder, denen es aber sehr viel besser geht.“ Kinder sind immer Bellas Thema.
„Wir haben den Orden gegründet.“ Beatus liebt den Ausdruck Orden und benutzt ihn häufig.
„Eine Frau kann auch ohne Mann überleben und sie ist genauso viel wert wie jeder Mann.“ Bellusa hat immer noch keinen Mann, aber inzwischen glaube ich, sie will keinen.
„Wir haben das Sammeln und aufbewahren der Nahrung perfektioniert und bringen es jedem bei.“ Kommt von Berti und Bene nickt. Die Beiden haben das gleiche Verlangen, Nahrung zu horten und haltbar zu machen, genau wie Beatus sammelt, was das Zeug hält. Da sind sie echte Brüder im Geiste.
„Jeder glaubt inzwischen, dass es MUS wirklich gibt und sie uns immer unterstützt,“ das kam von Auruma, sie ist sehr religiös.
„Durch das Orakel werden wir vor jeder Gefahr rechtzeitig gewarnt, und können uns schützen.“ Emilo liebt seine Frau wirklich.
„Ihr habt dafür gesorgt, dass die Hirschkäfer nicht aussterben,“ sagt Hedwig, „und das finde ich wirklich gut.“
„Ich habe meine Heilkräfte besser unter Kontrolle, als früher,“ meine ich. „und, jeder kann lernen den Heilern zu helfen und einfache Sachen selbst zu behandeln, dank der Schule von Tabitha, Medicus und Gemma.“
„Wir leben nicht mehr in großen Gruppen zusammen, sondern in kleinen Familienverbänden, überall verstreut. Das ist viel sicherer, sollte etwas passieren, sind nicht mehr so viele Todesopfer zu beklagen, wie damals in der Stadt.“ Steuerte Benedikte bei.
„Wir leben in Frieden mit all unseren Nachbarn,“ sagt mein Mann. Wenn man es so konzentriert hört, ist das schon eine ganze Menge.
„Was können wir denn noch verbessern, hat einer eine Idee?“ Frage ich in die Runde.
„Wir könnten mehr Gottesdienste abhalten, dann müssen nicht immer alle zu jedem Termin kommen, und es wäre nicht mehr so voll.“
Auruma spricht da einen sehr wichtigen Punkt an. Normalerweise halten wir alle dreißig Tage eine Versammlung mit Gebeten, und einem Trank aus dem See, ab. Meistens ist es sehr voll, jeder möchte aus dem See trinken, das ist oft ein großes Durcheinander. Mich stört das auch, aber zu viele Versammlungen, das sieht so aus, als wollten wir sie zum Beten zwingen. Das will ich nicht. Das Gebet ist ein freiwilliger und sehr persönlicher Akt, nein, nicht mehr Gottesdienste, aber...
„Auruma hat nicht ganz Unrecht, mit dem Gedränge, aber noch mehr Gebete, nein, entschuldige Auruma, nicht alle finden denselben Frieden im Gebet wie Du. Aber vielleicht können wir die Pforten des Ordens alle sieben Tage öffnen, den ganzen Tag, oder nur am Nachmittag, ich weiß es nicht. Wer will, kann dann bis zum Abend bleiben und am Gebet teilnehmen. Da würden wir niemanden zwingen, aber auch keinen vor den Kopf stoßen. Was denkt Ihr darüber?“ Mutter seufzt.
„Bitte nur den Nachmittag, Kind, sonst hat man ja gar keine Ruhe mehr. Und der ganze Dreck, der jedes Mal hinterlassen wird, muss ja auch weg geräumt werden. Vielleicht nur alle fünfzehn Tage?“
„Das geht natürlich auch, was meint Ihr?“ Ich schaue auffordernd in die Runde. Activa gehört zu denen, die am Meisten Putzen und Aufräumen, also sehe ich sie fragend an.
„Maxi,“ meint sie, „also, wenn Du mich fragst, alle fünfzehn Tage ein Nachmittag, das wären dann doppelt so viele Möglichkeiten aus dem See zu trinken, wie im Moment. Das sollte einfach reichen.“
„Das denke ich auch, Activa, also wenn alle einverstanden sind, rufe ich einen Spatzen, oder zwei, und lasse die Neuigkeit verbreiten. In Zukunft, alle fünfzehn Tage ein Nachmittag zum Trinken und wer möchte, im Anschluss wird gebetet,“ fasse ich zusammen. Allgemeine Zustimmung, gut, dann werde ich nachher zum Wasserfall gehen.
*
In unserem Land leben im Moment etwa dreißig Familien, mit jeweils zwei Kindern, das sind schon mal neunzig Mäuse, dann noch ungefähr zwanzig Ungebundene. Kinder gehen immer mal wieder weg, um sich einen Partner zu suchen. Manche kommen wieder, manche nicht. Bisher waren auf einer Versammlung meistens so um die hundert Mäuse. Sie kommen durch die Halle in den Erdbau, laufen in langen Schlangen bis zum See, trinken und warten dann auf das Gebet. Nicht alle natürlich, aber wohl die Meisten, jedenfalls ist das Gedränge immer groß. Heute hoffe ich, dass nur etwa die Hälfte kommt, verteilt über den ganzen Nachmittag. Ein Drittel bleibt wahrscheinlich zum Gebet. Das wären überschaubare fünfundzwanzig bis dreißig Leute, da kann man den Gottesdienst viel persönlicher und ruhiger gestalten.
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