»Und wieso kreisen die eigentlich um die Sonne?«, hakte Shirah nach.
»Dies liegt an der Anziehungskraft, auch Gravitation genannt. Die Sonne ist der größte Körper im Sonnensystem, besitzt somit die größte Masse und hält alle kleinen Planeten durch ihre Anziehungskraft ›gefangen‹, als ob sie durch Bänder mit ihr verbunden wären. Doch jeder Körper, egal wie groß seine Masse ist, übt eine Anziehungskraft aus, genau wie die Erde auf den Mond. Über welche Gravitation die Sonne verfügt, kann man sich anhand ihrer Größe vorstellen. Lege 109 Erdkugeln nebeneinander, und du erlangst den Durchmesser der Sonne.«
»Wow!«, staunte die Koboldin und schaute aus dem Fenster, wo ihr schon die Erde riesig vorkam. Sie gelangte zu dem Schluss, dass die Sonne eine enorme Anziehungskraft besitzen musste, wenn sie aus dieser Entfernung wirkte.
»Aber warum bleiben wir mit unserem Raumschiff nicht in der Nähe der Erde hängen, ähnlich wie der Mond?«, provozierte Pennyflax den Computer und versuchte ein weiteres Mal, die Maschine des Lügens zu überführen.
Amigo klickte und schnarrte: »Das wäre tatsächlich der Fall, wenn wir unseren Antrieb abschalteten. Allerdings müsste das in einer bestimmten Entfernung zur Erde geschehen. Schalten wir den Antrieb zu früh ab, stürzen wir wegen der Gravitation zur Erde zurück, und schalten wir ihn zu spät ab, treiben wir in den Weltraum hinaus. Doch in einem perfekten Abstand würden wir in einer Umlaufbahn hängen bleiben und auf ewig die Erde umkreisen. So wie ein Satellit.«
Obwohl Pennyflax und Shirah mittlerweile der Kopf von den vielen Informationen schwirrte, fanden sie das Thema Weltraum und dessen gigantische Ausmaße hochspannend. Am unglaublichsten kam ihnen Amigos Erklärung vor, laut der beinahe jeder Leuchtpunkt in der Schwärze des Alls ein Stern war, also eine Sonne, die vielleicht ebenso über Planeten verfügte. Als schließlich die Erde unter ihnen zurückblieb, spürten die beiden das Schwinden der Anziehungskraft am eigenen Leib: Sie wurden auf einmal ganz leicht, und wären sie nicht angeschnallt gewesen, hätten sie zu schweben begonnen. So wie ein gewisser Schlapphut oder eine Kräutertasche, die ungehindert durch das Schiff trieben.
***
Schließlich näherte sich das Raumschiff auf seinem zweistündigen Flug dem Ziel. Dank Lunos Hinweis vermochten sich die Kobolde endlich das Größen- und Entfernungsverhältnis zwischen Erde und Mond vorzustellen. Verglich man nämlich die Erde mit einer Orange, besaß der Mond nur die Größe einer Kirsche und umkreiste die Erde im Abstand von einem Meter – eine Strecke, die in der Realität 380.000 Kilometern entsprach. Was die zwei aber zu Begeisterungsstürmen hinriss, war der Anblick des Vollmonds, dessen strahlende Oberfläche bald den ganzen Sichtbereich hinter den durchsichtigen Raumschiffswänden ausfüllte. Sie erkannten jeden Krater und erfuhren, dass die Löcher durch den Einschlag von Meteoriten entstanden waren. Steine von Millimeter- bis Felsgröße, die durch das Weltall gerast und irgendwann auf die Mondoberfläche gekracht waren.
Doch auch Einzelheiten vermochten sie zu erspähen. Zum Beispiel silbrige Ebenen, auf denen Tierherden grasten oder sich die Laubdächer von silbernen Wäldern im Wind wiegten. Türkisfarbene Flüsse schlängelten sich dort unten durch Felslandschaften, stürzten als Wasserfälle in Seen oder sprudelten an Siedlungen vorbei, deren Gebäude in der Sonne glitzerten. Einmal bemerkten sie einen zugefrorenen See, über den Ungetüme stampften, die Mammuts ähnelten und Häuser auf ihren Rücken schleppten. Und im Luftraum über dem Mond flogen nicht nur Vögel, sondern auch Raumschiffe umher.
Luno zeigte nach unten und machte seine Begleiter auf etliche schwarze Flecken aufmerksam, die die Oberfläche verschandelten und so groß wie Fußballfelder waren. Die Gebiete wirkten klebrig und abgestorben, als ob jemand Teer darüber gegossen hatte. »Seht, meine Freunde«, jammerte er mit bebender Stimme. »Dies sind die Stellen, an denen die Finsterlinge das Lichtsilber gestohlen haben. Nichts wächst oder leuchtet mehr auf dem Boden, weil ihm jegliche Energie geraubt wurde. Selbst unsere Mondgarde ist machtlos gegen die Diebe, die sich mit einer solchen Schattenkraft umgeben, dass nichts sie stoppen kann.«
Pennyflax hatte sich bereits Gedanken über die Herangehensweise an die Situation gemacht. »Kann uns denn irgendwer etwas über die Schwächen der Finsterlinge verraten? Wie man sie aufspürt und wo sie unseren Magiker und die entführten Wissenschaftler gefangen halten? Am besten wäre natürlich, wenn wir eine Landkarte zur dunklen Seite des Mondes kriegen könnten.«
»Wir müssten auch wissen«, ergänzte Shirah, »ob unsere Klangstein-Amulette etwas gegen die Finsterlinge ausrichten.«
Luno deutete zum Horizont, an dem eine Großstadt in Sichtweite gelangte. »Wir werden den Hohen Rat meiner Regierung um Hilfe bitten, mit dem ich bereits ein Treffen vereinbart habe. In Kürze erreichen wir Kosmopolis und landen auf dem Mondhafen Alpha 1. Von dort aus begeben wir uns zum Regierungsgebäude, wo uns die Ratsmitglieder gewiss nützliche Informationen und ihre Landkarten zur Verfügung stellen. Vor langer Zeit kannte sich mein Volk, die Lunari, in einigen Gebieten der Mondrückseite aus und hat wichtige Orte auf den Karten verzeichnet.«
Pennyflax nickte. »Einverstanden. Wir sollten uns aber sputen, weil Meister Snagglemint vielleicht von den Halunken gequält wird und unsere Hilfe braucht.«
Plötzlich schrillte im Schiff eine Alarmsirene los. An den Wänden begannen rote Signallampen zu flackern, die Luno veranlassten, hektisch den Bildschirm zu kontrollieren. Seine Blicke flogen über das Radarbild, bis er zu seinem Entsetzen einige Punkte entdeckte, die sich schnell näherten. Noch bleicher als sonst fuhr er zu seinen Freunden herum und flüsterte: »Wir werden von einem Raumschiff-Geschwader verfolgt, das aus Finsterling-Schiffen besteht. Offensichtlich führen die Schurken erneut einen Raub durch, bei dem wir sie gestört haben. Mir bleibt keine andere Wahl, als den Kurs zu ändern. Wir müssen wieder höher hinauf, um sie abzuschütteln …«
Ein gewaltiges Krachen erschütterte ihr Raumschiff, so dass die drei zusammenzuckten und die Köpfe einzogen. Gleich darauf ertönte ein schneidendes Quietschen, das die Wände zum Vibrieren brachte. In der Schiffshülle entstanden Risse, deren Ränder glühten und durch die zischend die Atemluft entwich. An den Rissen bildete sich zudem eine schwarze Schmiere, welche die Kobolde an die Schattenpflanze in Meister Snagglemints Haus erinnerte. Wie dort, stank auch dieses Zeug fürchterlich nach Teer.
Luno riss die leuchtenden Augen auf und rief: »Oh Schreck, wir werden angegriffen! Die Finsterlinge beschießen uns mit Leser-Strahlen!«
»Was sind denn Leser-Strahlen???«, schrie Pennyflax durch den Lärm zurück und beobachtete, wie der Mondmann sich abschnallte und durch die Schwerelosigkeit des Schiffs driftete.
Luno hielt sich an der Metallkabine des 4D-Druckers fest und betätigte ein paar Knöpfe. »Leser-Strahlen stammen von einer gefährlichen Energiewaffe, die verschachtelte Sätze verschießt. Werden diese Schachtelsätze nicht schnell genug gegengelesen, fressen sie Löcher in das Ziel. Deshalb brauche ich schleunigst eure Hilfe, meine Freunde!« Er zerrte einen Gummilappen aus dem dampfenden Drucker, der einem großen Fahrradflicken ähnelte, und keuchte: »Während ich das Leck in der Wand repariere, muss sich einer von euch ans Steuerpult setzen und die Leser-Strahlen unserer Verfolger gegenlesen, damit sie nicht unser Schiff treffen.«
Shirah nickte und schnallte sich los. »Ich mach das! Was genau soll ich tun?«
Luno stieß sich mit den Füßen ab und schwebte samt dem Flicken unterm Arm zum Riss in der Wand hinüber. »Am besten, du beobachtest die Strahlen vom Bildschirm aus, und sollte einer auf uns zuschießen, liest du den gesamten Schachtelsatz laut vor, sobald du seine Wörter erkennst. Sprich dafür in das Mikrofon, das deine Stimme nach draußen überträgt.«
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