Eigentlich müsste sie diesem Greg Norman dankbar sein, dass er sie nachts durch New York fuhr. Er tat es sicher nicht aus reiner Nächstenliebe, das konnte sie von einem Amerikaner nicht erwarten. Diese Männer waren in ihren Augen alle ein wenig einfältig und dumm. Seit ihrer Flucht aus dem Iran hatte Bahar nicht einen Mann kennengelernt, der ihren Vorstellungen und Ansprüchen auch nur im Geringsten gerecht wurde. Sie sehnte sich nach Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung, Tugenden, die im Iran nicht erwünscht waren, schon gar nicht unter den Augen der strengen Sittenwächter.
Bahar hatte ihr Leben lang gegen die Mullahs und für die Gleichberechtigung der Frauen im Iran gekämpft. Damit setzte sie die Arbeit ihrer Mutter fort, die im Gefängnis zu Tode gefoltert wurde, weil sie als Universitätsprofessorin öffentlich die Scharia hinterfragte und während ihrer Vorlesungen das Kopftuch ablegte.
Bahar war zwölf Jahre alt, als um Mitternacht Männer des Geheimdienstes Ettelaat ins Haus stürmten und ihre Mutter mitnahmen. Sie wurde in das berüchtigte Gefängnis von Tabriz gesteckt, wo sie monatelang verhört, gequält und gefoltert wurde. Ihre geschundene Leiche wurde eines Tages auf einer Müllhalde gefunden.
Bahars Vater war kurz nach ihrer Geburt bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Als Vollwaise wuchs das Mädchen bei ihrem Onkel Mohamed Tagi auf. Der umsichtige und tüchtige Geschäftsmann besaß einen Laden für Baumaterialien in Tabriz. Er war stolzer Besitzer von sieben großen Lastwagen, mit denen er Zement und Steine zu Baustellen transportieren ließ. Da Mohamed seine Lkws auch an die Stadt vermietete, hatte er Zugang zu höchsten politischen Kreisen. Bis zuletzt hatte er gehofft, seine Schwester aus den Klauen des berüchtigten Geheimdienstes retten zu können. Er setzte dabei sein eigenes Leben aufs Spiel. Als Mohamed eines Abends von unbekannten Männern auf der Straße zusammengeschlagen und schwer verletzt wurde, verstand er dies als letzte Warnung. Der grausame Tod seiner geliebten Schwester kostete Mohamed beinahe sein eigenes Leben. Er erlitt einen Herzinfarkt und es dauerte Monate, bis er wieder auf die Beine kam. Seine Seele jedoch war gebrochen. Er fühlte sich wie ein Vogel, dem beide Flügel mit Gewalt ausgerissen worden waren.
In jungen Jahren hatte Mohamed Tagi im Untergrund gegen die Diktatur des Schahs gekämpft. Er setzte große Hoffnung auf die Befreiung durch die Mullahs. Der Geschäftsmann selbst war kein gläubiger Moslem. Er trank Alkohol, war noch nie in Mekka gewesen und betete eher selten bis gar nicht. Auch deshalb lebte er jetzt in großer Angst vor dem Geheimdienst. Er verhielt sich so unauffällig wie möglich und folgte den Gesetzen des Korans, zumindest nach außen hin. Noch einmal in den Untergrund gehen, dafür fühlte er sich mit seinen 57 Jahren nicht mehr stark genug.
Mohamed bewohnte mit seiner Frau ein komfortables Haus im Stadtteil Valiasr, nicht weit von seinem Geschäft entfernt. Die beiden kümmerten sich liebevoll um Bahar und versuchten, alle Gefahren von ihr fernzuhalten. Doch das Mädchen begann zu rebellieren, der Tod ihrer Mutter war nicht ohne Folgen geblieben. Sie begann den Islam und die Mullahs zu hassen, die den Frauen alle Rechte nahmen und sie zu Sklaven im Dienste Allahs machten.
„Eines Tages werden die Langbärte dafür büßen, dass sie meine Mutter umbringen ließen“, sagte Bahar zu ihrem Onkel, als sie noch keine 16 Jahre alt war.
Später studierte sie Journalismus an der Tabrizer Uni. Sie legte ihr Kopftuch nicht ab, wie ihre Mutter es tat, doch sie schob es demonstrativ zurück, oft bis in den Nacken, so dass nur noch ein Teil ihrer Haare bedeckt war. Immer wieder flehte ihr Onkel sie an, bloß vorsichtig zu sein. „Ich bin so vorsichtig, wie ich es meiner Mutter schuldig bin“, sagte Bahar.
In ihrer Freizeit engagierte sich Bahar in verschiedenen Frauenrechtsbewegungen. Unter anderem ging sie für die Kampagne „Eine Million Unterschriften“ von Tür zu Tür. In der Friedensnobelpreisträgerin Dr. Shirin Ebadi fand sie eine furchtlose und engagierte Mitstreiterin. Gemeinsam kämpften sie für die Rechte der Frauen im Gottesstaat, für das Recht auf Scheidung und das Sorgerecht für Kinder.
Mit ihren Aktionen lenkte allmählich auch Bahar die Aufmerksamkeit des Geheimdienstes auf sich. Sie stand unter ständiger Beobachtung. Als die Drohanrufe zunahmen und die junge Frau um ihr Leben fürchten musste, sprach ihr Onkel ein Machtwort. „Ich möchte nicht, dass du das gleiche grausame Schicksal wie deine Mutter erleidest, mein Herz würde aufhören zu schlagen. Du musst das Land verlassen.“
Bahar beantragte einen Reisepass, der ihr von den Mullahs jedoch verweigert wurde. Es blieb ihr nur noch die Flucht.
Mohamed Tagi nutzte alte politische Kontakte im kurdischen Gebiet und brachte seine Nichte nach Mahabad, wo ein langjähriger politischer Freund sie in Empfang nahm. Ein kurdischer Kämpfer schleuste Bahar durch die Berge in die Türkei. Sie waren über eine Woche unterwegs. Immer nur nachts, tagsüber versteckten sie sich. Als Mohamed Tagi die Nachricht erreichte, dass Bahar wohlbehalten in Van angekommen war, informierte er seinen wohlhabenden Cousin, der seit über 20 Jahren in Amerika lebte. Dieser organisierte die Weiterreise.
„Wer ist Ramon?“, fragte Greg, während er vor einer roten Ampel abbremsen musste.
„Woher kennen Sie diesen Namen?“, Bahar war erstaunt.
„Den habe ich aufgeschnappt, als Sie mit dem Wirt gesprochen haben.“
Bahar drehte sich zu Greg. „Das hat Sie nicht sonderlich zu interessieren“, sagte sie.
Greg beschleunigte seinen Wagen, als die Ampel auf Grün sprang. „Darf ich Sie erinnern, dass ich Sie aus freien Stücken durch New York fahre, um einem Mann das Leben zu retten, wie immer diese Rettung auch aussehen mag. Sie müssen zugeben, das klingt sehr abenteuerlich und ich habe ein Recht darauf, Näheres zu erfahren. Niemand könnte mich daran hindern stehen zu bleiben und Sie zu bitten, aus meinem Wagen zu steigen.“
Bahar nagte an ihrer Unterlippe wie immer, wenn sie nervös wurde. Und dieser Klugscheißer machte sie nervös. „Was soll ich Ihnen erzählen? Ramon wohnt über dem Restaurant, in dem ich Sie aufgelesen habe. Er leidet seit seiner Kindheit unter schwerem Asthma und es grenzt an ein Wunder, dass er mit dieser Krankheit über 80 Jahre alt wurde. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich jedoch von Tag zu Tag. Er benötigt Sauerstoff, um einigermaßen atmen zu können.“
„Den Sauerstoff, den wir jetzt mitten in der Nacht abholen?“
„Richtig, den wir jetzt irgendwo abholen.“
„Und wo, wenn ich fragen darf?“
Bahar antwortete nicht, doch Greg ließ nicht locker. „Aus einer Klinik?“, bohrte er weiter. Es amüsierte ihn, dass er seiner Beifahrerin jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Wenn es der Verkehr erlaubte, blickte er kurz nach rechts, um ihr Profil zu betrachten. Von der Seite fand er Bahar noch attraktiver. Ihre leicht gekrümmte Nase und das feste Kinn gaben ihr ein herrschaftliches Profil. ‚So sieht eine orientalische Prinzessin aus dachte Greg.
„Sind Sie eine Prinzessin aus dem Morgenland?“
Bahar blickte überrascht zu ihm. Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet. Seit langer Zeit wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und hinter den Ohren machte sich eine leichte Röte breit.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich finde, Prinzessinnen aus dem Iran sollten Ihr Profil haben.“
Bahar hatte sich wieder gefasst. „So, so“, sagte sie, ohne näher auf seine Schmeicheleien einzugehen.
Greg war enttäuscht. Er hatte gehofft, seine Begleiterin ein wenig aus der Reserve locken zu können.
„Wir sind da“, sagte Bahar und deutete mit der linken Hand aus dem Fenster. Greg bremste abrupt ab. Sein Blick folgte Bahars ausgestrecktem Finger. „Das rote Haus.“
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