Der Raum, in dem sie sich befanden, war Schlaf- und Arbeitszimmer zugleich. Neben dem Bett waren zwei alte Stühle und ein kleiner Schreibtisch platziert, darauf stand eine alte Reiseschreibmaschine, in die ein weißes Blatt Papier eingespannt war. Andere Blätter lagen lose auf dem Tisch, die meisten waren eng beschrieben. Links neben der Schreibmaschine stapelten sich weitere Blätter fein säuberlich übereinander.
Ein kleines weißes Regal stand voll mit Büchern. Auf dem Bord lagen ein Schachspiel, eine Packung Zigarren und sechs Pfeifen in verschiedenen Größen ordentlich aneinandergereiht.
‚Kein Wunder, dass der Typ bald stirbt, wenn er in diesem Zustand noch Zigarren und Pfeife raucht’, dachte Greg.
Die Wände des Zimmers waren in einem hellen Blau gestrichen. An der Stirnwand neben dem Schreibtisch hingen mehrere Schwarz-Weiß-Fotos. Die zwei größten waren eingerahmt, die kleineren Ablichtungen mit Stecknadeln an die Wand gepinnt. Greg konnte nicht glauben, was er sah. Er machte ein paar Schritte nach vorne, um die Fotos besser betrachten zu können, in der Hoffnung, er hätte sich geirrt.
Das große Foto links zeigte die weiße Holzkirche von Wounded Knee. Davor standen mit Gewehren bewaffnete Indianer in Kriegerpose. Einige hielten ihre Waffen mit einer Hand, reckten sie nach oben. Andere hielten das Gewehr zwischen ihren verschränkten Armen. Alle blickten in eine Richtung, weg vom Fotografen, hin zur Straße. Dort erkannte man im Hintergrund andere Männer, die ebenfalls bewaffnet waren.
Greg kannte die Bilder. Die Fotos entstanden während des Aufstandes und der Besetzung von Wounded Knee im Jahre 1973. Zwar war er zu dieser Zeit noch nicht auf der Welt gewesen, doch wer im Reservat der Oglala-Sioux aufgewachsen war, kannte die Geschichte vom Kampf um Freiheit und Anerkennung.
Auf dem zweiten großen Foto erkannte Greg den Anführer des American Indian Movement, Russell Means. Er und seine kriegerische Organisation waren in Wounded Knee federführend im Gefecht gegen FBI und Regierung.
Greg kannte Means persönlich. Jahre nach dem Aufstand war Means oft im Haus seiner Eltern gewesen, um mit seinem Vater politische Dinge zu besprechen.
Neben Means stand ein Mann mit langen schwarzen Haaren und einem markanten Gesicht. Greg war, als hätte er diesen Mann schon einmal gesehen. Auf dem Kopf trug er eine Art Barett mit einem roten Stern. Der Mann war komplett in Schwarz gekleidet. Im Gesicht hatte er rote Farbe aufgetragen, wie eine Kriegsbemalung. Unter dem Rot konnte Greg an der linken Wange eine lange Narbe erkennen. Sie reichte vom Mundwinkel hoch bis knapp zum Auge. Die Narbe ließ den Indianer gefährlich aussehen. Er blickte ernst und angespannt in die Kamera. Dennoch glaubte Greg in seinem Gesichtsausdruck ein triumphierendes Lächeln zu erkennen, so als wäre der Mann glücklich und stolz, fotografiert zu werden. Seine Augen hatten das Objektiv des Fotografen fest im Blick. Er schaute in die Kamera als wollte er sagen: „Seht her, hier bin ich.“
Greg war für einen kurzen Moment allein im Zimmer, als der alte Ramon erwachte. Er blickte Greg aus müden Augen an.
„Ein neuer Gast“, murmelte er. „Kannst du mir helfen, mich aufzurichten? Ich bin momentan nicht so gut in Form.“
Greg schmunzelte. „Das weiß ich, Sir“, sagte er. „Ich habe mit Bahar die beiden Sauerstoff-Flaschen besorgt.“ Dabei zeigte Greg auf die Stahlflaschen, die neben dem Bett standen. „Sie haben wohl zu viel Zigarren und Pfeifen geraucht?“ Er deutete auf das Bord. Jetzt war es Ramon, der lächelte.
Greg trat zum Bett. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Zieh mich bitte hoch und schiebe mir das große Kissen in den Rücken, so dass ich mich aufsetzen kann.“
Greg zögerte kurz.
„Hast du Angst, einem alten Mann unter die Arme zu greifen?“
Greg hob den weißhaarigen Mann hoch. Er war erstaunt, wie leicht der Alte war. Seine Finger ertasteten jeden Knochen unter der Haut.
Als Ramon im Bett saß, erzählte Greg kurz, wie er in das Haus gekommen war. Doch plötzlich stutzte er. Erst jetzt bemerkte er die lange Narbe auf der linken Wange des alten Mannes, die bis dahin hinter den langen weißen Haaren verborgen war.
‚Wie der Indianer auf dem Foto. Ob das ein Zufall war? Oder sollte etwa der Typ mit dem schwarzen Barett und der Kriegsbemalung Ramon sein?’
Greg zeigte auf die Wand. „Warum haben Sie Fotos von Wounded Knee in ihrem Schlafzimmer hängen? Ich finde diese Art von Dekoration sehr ungewöhnlich. Diese Fotos gibt es zwar massenweise im Internet, Wikipedia ist voll damit, aber im Schlafzimmer eines alten Mannes in New York?“
Ramon blickte erstaunt auf seinen Besucher. „Woher weißt du, dass es Fotos aus Wounded Knee sind?“
„Ich bin in Rapid City aufgewachsen und ich hatte gehofft, in dieser großen Stadt nie wieder einem Indianer zu begegnen.“
„Welche schlechten Erfahrungen haben dich so zynisch werden lassen?“, fragte Ramon.
„Wenn man unter Indianern aufwächst, dann sollte man zumindest ein Cowboy mit einem schnellen Colt sein. Wer diese Gabe nicht hat, steht auf verlorenem Posten. Ich habe als kleiner Yankee viel Prügel einstecken müssen. Ich war nicht für die Wildnis geschaffen, auch wenn es meine Eltern gerne gesehen hätten, besonders meine Mutter.“
„Wie war deine Mutter?“, wollte Ramon wissen.
„Verraten Sie mir erst, ob Sie der Indianer dort oben neben Russell Means sind. Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit, besonders die Narbe an der linken Wange macht mich stutzig. Sind Sie ein Native?“
Ramon richtete sich weiter auf und nahm seine Plastikschläuche aus der Nase. „Kannst du bitte den Sauerstoff abdrehen? Ich habe genug davon inhaliert, mir geht es viel besser. Außerdem unterhält es sich so angenehmer.“
Greg drehte an der Flasche den Hahn zu und blickte Ramon fragend an.
„Junger Freund, mein Name ist Ramon Juarez, wie Bahar dir sicher schon erzählt hat. Umgekehrt wüsste ich auch gerne, mit wem ich es zu tun habe.“
„Natürlich, entschuldigen Sie. Ich heiße Norman, Greg Norman.“
„Greg Norman“, murmelte Ramon. „Greg Norman, der bei den Oglala-Sioux aufwuchs.“ Der Alte wurde ernst und schwieg, während seine Blicke durch das Zimmer wanderten und endlich bei Greg hängen blieben.
„Erzähle mir von deiner Mutter“, bat er schließlich. „Lebt sie noch?“
„Warum sollte meine Mutter nicht mehr leben?“, entgegnete Greg. „Sie wohnt nach wie vor in Rapid City, in einem kleinen Häuschen in der Indianersiedlung am Rande der Stadt. Ich glaube, dass sie in ihrem Herzen eine Sioux geworden ist. Jedenfalls nimmt sie an sämtlichen Zeremonien teil und hilft den Frauen bei der Arbeit. Sie lebt von ihrer Rente und ich zahle die Miete für das Haus. Warum fragen Sie?“
„Mütter sind heilige Wesen, die es zu ehren gilt. Meine Mutter war die schönste und klügste Frau der Welt. Ich denke beinahe jeden Tag an sie und mein Herz wurde nie wieder richtig glücklich, seit ich von ihrem Tod erfahren habe. Ich beneide dich darum, dass du deine Mutter in den Armen halten und ihr ins Ohr flüstern kannst, wie sehr du sie liebst.“
Die beiden Männer schwiegen eine Zeit lang ehe Ramon fragte: „Was ist mit deinem Vater? Du sagtest, deine Mutter lebt von einer kleinen Rente?“
Greg schien zu überlegen, ob er dem alten Mann antworten sollte. „Mein Dad ist tot“, sagte er schließlich. „Er wurde gewaltsam aus dem Leben gerissen. Ein Bastard hat ihn erschossen. Vermutlich ein besoffener Indianer.“
Ramon wurde für Sekunden aschfahl im Gesicht, seine Hände begannen zu zitterten. „Das tut mir leid mit deinem Dad“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Der Fall wurde nie geklärt?“
„Nein, die Polizei hat den Täter nie gefunden. Jetzt können Sie vielleicht nachvollziehen, warum ich Indianer nicht besonders mag, auch wenn ich die Beziehung zu meinem Vater als nicht besonders innig in Erinnerung habe. Diesen sinnlosen Tod hatte er nicht verdient, abgeknallt zu werden wie ein Hase. Seine Leiche wurde nahe von Wounded Knee in einem Graben gefunden. Ich habe diesen Ort aus meinem Gedächtnis verbannt und nun liegt vor mir ein alter Mann, der ihn heiligt, indem er diese Fotos einrahmt und sie über sein Bett hängt.“
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