Das Wort kommt aus dem asiatischen Raum, nehme ich an. Aber du bist kein Japaner, nicht einmal Amerikaner, wie ich deinem Akzent entnehmen kann.
Du musst zugeben, das ist krass und ein wenig viel für einen normalen Menschen wie mich."
„Das mag alles sein, ist jedoch kein Grund, mich mitten in der Nacht zu beschimpfen“, entgegnete Akasha in ruhigem Ton. „Du hast Bahar geholfen, dafür haben wir uns bedankt. Ich habe dich nicht eingeladen. Du hast nachts bei mir geklingelt und um Einlass gebeten. Du genießt meine Gastfreundschaft, aber wenn dir hier gewisse Dinge nicht passen, kannst du jederzeit wieder gehen. Ich halte dich nicht auf, du weißt, wo die Tür ist.“
„Ich habe zu viel erlebt heute. Mein Bankerhirn ist völlig überfordert und schreit nach Ruhe. Erkläre mir bitte nur eines: Wer ist damals im Dschungel erschossen worden - wenn nicht Che?“
„Das soll er dir selbst erzählen. Ich hatte lediglich den Auftrag, dir das zu sagen, was ich dir gesagt habe.“
„Mir was zu sagen?“
„Das Ramon Che Guevara ist.“
„Und in wessen Auftrag?“
„In Ches Auftrag.“
„Che, äh, Ramon hat dich beauftragt, mir zu erklären, dass er selbst Guevara ist?“
„Wann das denn?“
„Kurz nachdem du gegangen bist. Er sagte, du würdest wieder kommen und ich sollte es dir sagen. Bahar war strikt dagegen. Sie meinte, es würde in einer Katastrophe enden, solltest du die Wahrheit erfahren. Sie hält nicht viel von dir, glaube ich.“
„Aber Ramon?“
„Ja, er hat aus unerfindlichen Gründen einen Narren an dir gefressen, auch wenn ich mir das nicht erklären kann. Ich kenne dein Geheimnis nicht, aber Che scheint sich sehr sicher zu sein.“
„Sicher sein, womit?“
„Dass du den Frieden in sein Leben bringst, nach dem er sich gesehnt hat. Kann es sein, dass sein Interesse an dir etwas mit Wounded Knee zu tun hat? Aber frag mich nicht, ich weiß es nicht.“
Akasha war in einem weiteren Zimmer angekommen. „Hier auf dem Sofa kannst du schlafen“, sagte er zu Greg, der lächelnd den Kopf schüttelte. „Eine dermaßen verrückte Geschichte gibt es sonst nur im Kino.“
Akasha sah seinen Gast an. „Ich würde jetzt gern schlafen. Da vorne ist das Badezimmer, ich habe dir ein frisches Handtuch hingelegt. Du kannst die rote Zahnbürste benutzen, sie ist neu.“
Greg zog seinen Anzug aus und ließ sich auf das Sofa fallen. Zähneputzen und Duschen konnte er auch später. Er fand nur schwer in den Schlaf und dann wurde er von Albträumen geplagt:
Che Guevara war Vorstandsvorsitzender von JP Morgan und behandelte seine Mitarbeiter wie Sklaven. Seinen Chauffeur ließ er auspeitschen, weil dieser den Innenraum des Wagens nicht gründlich gereinigt hatte.
Greg wurde in Ches Büro zitiert. „Mir fehlen zwei Milliarden Dollar“, sagte der und deutete auf ein leeres Blatt Papier. Greg versuchte zu erklären, wie es zu dem Fehlbetrag kommen konnte, aber Che schnitt ihm das Wort ab. „Das interessiert mich nicht! Du hast die Bank und damit auch mich um zwei Milliarden Dollar betrogen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das ohne Konsequenzen bleibt. Ich erkläre dich für vogelfrei. Du hast fünf Minuten Vorsprung.“
Greg kannte das grausame Procedere. Che hatte einmal einen Mitarbeiter für „vogelfrei“ erklärt. Der arme Mensch hieß Phil Eisack, erinnerte sich Greg. Eisack hatte ein Verhältnis mit seiner Sekretärin und für einen Brillantring ein paar tausend Dollar abgezweigt.
Wer für „vogelfrei“ erklärt wurde, dem schickte Che fünf Minuten später ein Killerkommando hinterher. Fünf Minuten Vorsprung waren nicht viel Zeit. Man konnte mit Mühe das Erdgeschoss erreichen und in ein Taxi steigen, in der Hoffnung, seinen Häschern im dichten Verkehr zu entkommen oder gleich aus dem Fenster des 27. Stocks springen. Die Killermeute hatte noch nie eine Spur verloren und jeden Vogelfreien innerhalb eines Tages gestellt und erschossen.
Greg fuhr mit dem Aufzug nach unten. Exakt vier Minuten und fünfzig Sekunden später brüllte Che in den Telefonhörer: „Erschießt mir den Kerl und kommt nicht ohne seine Leiche zurück.“
Greg versteckte sich in einem unscheinbaren Restaurant, wo ihn ein dicker Mann aufforderte, an einem Wettessen teilzunehmen. Greg biss in seinen ersten Burger, als das Kommando das Restaurant stürmte. Er flüchtete durch die Hintertür. In einer Nebenstraße stand der alte Ford Mustang, den er gegen seinen weißen Porsche eingetauscht hatte. Der Wagen sprang nicht an. Eine Frau öffnete die Fahrertür und zerrte Greg aus dem Wagen. Sie lockte ihn über verschlungene Wege in einen Hinterhof, der über und über mit Efeu bewachsen war.
„Hier bist du vor deinen Verfolgern sicher“, sagte sie und begann sich auszuziehen. Greg kannte die Frau nicht, sie war klein und pummelig, hatte aber das liebliche Gesicht eines Engels mit lockigem Haar. Ihm war dennoch nicht nach Sex zumute, aber die Frau ließ nicht locker. Sie zerrte an seiner Hose und zog sie ihm über die Knie. In diesem Augenblick kam Che in den Hinterhof gefahren. Er entstieg einem schwarzen Buick. Langsamen Schrittes ging er auf die Nackte zu, zog eine Pistole aus seinem Schulterhalfter und erschoss die liebestolle Frau. „Sie hat es nicht besser verdient“, sagte er. „Sie war eine schlechte Revolutionärin und Agentin. Ich hatte mir mehr von ihr erhofft.“ Dann richtete er die Waffe auf Greg, der hilflos, mit heruntergelassener Hose, vor der Toten stand.
Mit diesem Bild im Kopf wachte Greg schweißgebadet auf. Er blickte sich vorsichtig um. Nur langsam kam die Erinnerung zurück. ‚Ich liege auf dem Sofa von Akasha. Che Guevara hat die Frau nicht erschossen und ich habe alles nur geträumt.’
Mühsam quälte er sich von seiner unbequemen Schlafstätte. Das Sofa war eine Schaumstoff-Matratze, auf der mehrere Kissen lagen. Um es wohnlicher zu gestalten, hatte Akasha eine bunte Decke darüber gelegt.
Greg spürte sämtliche Knochen, besonders der untere Rücken schmerzte. Er blickte auf die Uhr. Es war 8.30 Uhr. Eigentlich müsste er jetzt an seinem Schreibtisch sitzen, aber daran war im Moment nicht zu denken. Sein teurer Anzug hing lieblos und zerknittert über einer Stuhllehne, Hemd, Socken und Schuhe zierten den Fußboden. Greg ging ins Bad, wo er nach dem frischen Handtuch suchte, das Akasha für ihn bereitgelegt hatte.
Das Badezimmer war ein schmaler Schlauch, an dessen Ende eine verwitterte Plastikkabine mit hellblauem Plastikvorhang stand. Der Boden war mit wackeligen Holzfliesen ausgelegt, in der Badewanne stapelte sich die Schmutzwäsche. Greg schob den blauen Vorhang der Dusche zur Seite und rümpfte die Nase. In der Duschwanne aus Plastik stand das Wasser mehrere Zentimeter hoch. Er stieg vorsichtig in die noch warme Brühe und drehte den Wasserhahn auf. Doch aus dem Duschkopf fielen lediglich einzelne Tropfen wie in Zeitlupe auf sein Gesicht. Greg drehte den Wasserhahn mehrmals zu und wieder auf – das Ergebnis blieb das Gleiche. Die erfrischende Dusche blieb aus.
Greg dachte an sein schönes Badezimmer mit den Steinfliesen und der riesigen Duschkabine aus Glas, die mitten im Schlafzimmer stand. Er konnte vom Bett aus zusehen, wenn sich die Frauen ihre nackten Körper einseiften.
In seiner Wohnung achtete Greg penibel auf Sauberkeit und Hygiene. Jetzt badete er seine Füße in abgestandenem Wasser, auf dessen Oberfläche letzte Schaumkronen tanzten.
Das Badezimmer war nicht unbedingt Ausdruck von Akashas Seelenwelt, es spiegelte jedoch seine Lebensphilosophie wieder. Der kleine Tätowierer sah keinen tiefgreifenden Sinn darin, die Räume, in denen man wenig Zeit verbrachte, penibel sauber in Ordnung zu halten. Er verglich sein Zuhause mit dem Universum, das in sich als geordnetes Chaos funktionierte. Dieses scheinbare Durcheinander hatte Akasha auf seine Wohnung übertragen. Dabei war es nicht von Belang, ob in der Duschwanne noch abgestandenes Wasser stand oder sich in der Küche das schmutzige Geschirr stapelte. Diese Tatsachen spielten im Verständnis eines geordneten Chaos keine Rolle. Es waren nur Nebenschauplätze. Das Auge seines Universums, dort, wo sich im Zentrum die Energie bündelte, war Akashas Tätowierstudio. Hier hatte das Chaos keinen Zutritt.
Читать дальше