So erlebte Iris auch im neuen Haus eine behütete Kindheit, in der alles funktionierte, wo die Mama mit ihr Plätzchen buk oder Kaufmannsladen spielte, die älteren Schwestern sie zum Indianer-Abenteuer mit in den Wald nahmen und der Papa nach Feierabend und am Wochenende sich fast ausschließlich im Garten aufhielt, wo er auch immer die Zeit fand, mit seinen Töchtern Crocket oder Boccia zu spielen. Sie erinnerte sich an heiße Sonntage auf der Terrasse mit Waffeln, Kirschsauce und Schlagsahne, Mamas Bunzlauer Kaffeegeschirr und den klebrig-süßen Orangen-Nektar, der später vom Hundertprozentigen abgelöst wurde.
Sie erinnerte sich an Peter, der im Haus neben ihren Großeltern gelebt hatte und mit dem sie sich weiterhin zum Spielen getroffen hatte und dem es überhaupt nichts ausgemacht hatte, dass sie ein Jahr jünger war – bis er im Verlauf der dritten Grundschulklasse zu der Erkenntnis gelangte, dass ein Mädchen als Spielgefährtin, sein Ansehen im Kreise seiner Klassenkameraden untergrub. Es war das erste Mal, dass Iris eine derartig brüske Zurückweisung erlebte, ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, worin die Ursache dafür lag und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass es ihr so erging.
Sie erinnerte sich an Susanne von gegenüber, die fünf Jahre älter war als sie, sich aber nicht zu schade war, mit Iris im Garten zu zelten oder im kleinen Eichenwäldchen Mettwurst-Scheiben über dem Lagerfeuer zu grillen, wenn Iris drei Jahre ältere Schwester Anke zu einem Kindergeburtstag oder einer spektakulären Verabredung eingeladen war. Susanne war Kinderkrankenschwester geworden und hatte einen Zimmermann aus Oberlübbe geheiratet, wo sie mit ihm und ihren beiden Söhnen im Haus seiner Eltern lebte. Iris hatte sie seit Jahren nicht gesehen, nur Simone traf sie manchmal, wenn sie bei ihren Eltern zu Besuch war.
Mit fünf Jahren kam Iris in den Kindergarten und Lieselotte ging wieder halbtags arbeiten. Der Kindergarten mit seinem spektakulären Angebot an den neuesten Spielzeugen und phantastischen Klettergerüsten im Außengelände war ihr wie das Paradies erschienen. Sie erinnerte sich an die bunt lackierten Holzklötze und die riesigen Duplosteine, die endlosen Perlenketten, die sie aufgefädelt hatte, das Hütchenspiel, die Kartoffeldruck-Bilder, die kleinen, abgerundeten Kinderstühle, die niedrigen, Resopalbeschichteten Tische und den warmen Kakao in den dunkelroten Tassen des Frühstücksgeschirrs. Sie erinnerte sich sogar an den langen Flur mit den Turnhallenbänken und den Kleiderhaken und an ihre eckige, dunkelblaue Kindergarten-Tasche mit dem schwierigen Drehverschluss aus Metall, die bei ihrer Ankunft um den Hals baumelte und ihr Frühstücksbrot enthielt. Nur an die Kinder konnte sie sich kaum erinnern, bis auf Nicole, die immer eifrig versucht hatte, sie zum Mitspielen zu bewegen, den kackfrechen Olaf Möller, der ein Jahr jünger war als sie und mit dem sie eine Auseinandersetzung gehabt hatte, aus der sie als Siegerin hervor gegangen war. Außerdem waren ihr aus der anderen Gruppe Cornelia wegen ihrer flammend roten Haare und Birgit wegen ihrer zeitlupenartigen Langsamkeit aufgefallen. Sozialkontakte hatten nie im Mittelpunkt ihres Interesses gestanden, eher die Schönheit der Dinge. Sie beobachtete Menschen auch lieber, anstatt sich mitten ins Getümmel zu stürzen.
„Eigentlich erstaunlich“, dachte sie, „dass ich in meiner Kindheit überhaupt Freundinnen hatte.“
Die Pilcher-Schnulze im Fernsehen lenkte sie ab von den Schrecken des Nachmittags und der Erinnerungsflut, die sie auf der Terrasse überrollt hatte. Der Rotwein verschaffte ihr die nötige Bettschwere und so fiel sie bald in einen tiefen, festen Schlaf.
Endlich hatten die großen Ferien begonnen. Das Zeugnis, das bestätigte, dass Angela in die vierte Klasse versetzt wurde und das vor guten Noten nur so strotzte, lag wie ein Schatz im Schulranzen verborgen. Angela ging eigentlich gern zur Schule und die ersten großen Ferien waren ihr endlos erschienen, denn in der Schule warteten viele, spannende Herausforderungen auf sie, während sie sich in ihrem anregungsarmen Elternhaus zu Tode langweilte. Daran änderte auch die Tatsache, dass sie einen zwei Jahre älteren Bruder und eine vier Jahre jüngere Schwester hatte, nichts. Martin spielte Handball und ging vollkommen im Sportverein auf, dessen Mitglieder sich regelmäßig in der Dorfschänke trafen, die Angelas Eltern mitten im Ortskern betrieben. Kirsten war noch zu klein, um einen langen Ferientag mit spannenden Spielen zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Trotzdem freute sie sich auf die sechseinhalb Wochen, die vor ihr lagen: ein Kurzurlaub auf Langeoog war geplant und sie würde mit ihren Freundinnen durch die Felder streifen, tonnenweise Speiseeis verschlingen, Rollschuh laufen und Buden im Wald bauen.
Am Nachmittag fuhr sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Minden, weil alle drei neue Badekleidung und weitere Sommersachen brauchten. Sie hatte keine rechte Lust, denn ihre Mutter kaufte ihr nie die Kleidung, die ihr gefiel und die auch alle anderen Mädchen aktuell trugen, sondern das, was sie als Mutter für praktisch, von akzeptabler Qualität und als angemessenes Preis-Leistungsverhältnis einordnete. Umso glücklicher war Angela, dass die Mutter ihr diesmal ein geblümtes Baumwoll-Jersey-Kleid mit aktuellem Neckholder und tiefem Rückenausschnitt gönnte; das hatte sie sich schon länger gewünscht und kaum darauf zu hoffen gewagt.
Wieder zu Hause zog sie das Kleid gleich an und lief schnurstracks in die Kneipe, um ihrem Vater die Errungenschaft stolz vorzuführen. Der lächelte amüsiert, als sie sich vor ihm drehte, war aber weder an dem Kleid noch an seiner Tochter ernsthaft interessiert, ganz im Gegensatz zu einem triefäugigen, alkoholisierten Stammgast, der das kleine Mädchen mit ludenhaftem Kennerblick betrachtete: „Da kriegste aber 'n schönen braunen Rücken von, Geli.“, lallte er. „Soll ich dich mal einschmieren, damit du dir keinen Sonnenbrand einfängst?“
„Nee“, sagte Angela. „Ich zieh das ja gleich wieder aus. Mama will das erst noch waschen.“
„Na, wenn du dich gleich ausziehst, muss ich dich ja erst recht eincremen.“, lallte der Betrunkene und lachte dreckig. Dann fasste er das kleine Mädchen hart am Oberarm, zog sie an sich heran und beugte sich zu ihr herunter, um ihr einen Kuss zu geben. Sie roch schon den stinkenden Atem, in dem Bier, Korn, Zigarettenrauch und kranke Magensäfte sich mischten, als ihr Vater eingriff.
„Nu lass die Geli mal los, Friedhelm.“, sagte er ruhig. „Sonst machste ihr das schöne neue Kleid dreckig.“
„Wieso?“, blaffte Friedhelm den Wirt an, ließ die Kleine aber los. „Ich bin doch gewaschen, warum soll ich ihr denn das Kleid dreckig machen?“
Angela verließ fluchtartig die Kneipe.
„Was rennst du denn wie von der Tarantel gestochen?“, fragte ihre Mutter, als sie in die Küche kam.
„Rattemeiers Onkel Friedhelm wollte mich küssen.“
„Und? Hat er?“
„Nee, Papa hat gesagt, er soll mich loslassen und da bin ich weggelaufen.“
„Aber du warst doch nicht unhöflich zu Onkel Friedhelm?“
„Nein, wieso? Ich hab' gar nichts gesagt.“
„Du musst immer nett zu unseren Gästen sein. Wenn du nicht nett zu denen bist, dann kommen die nicht mehr und dann verdienen wir kein Geld mehr.“
„Aber der stinkt so.“
„Ach, nun stell dich nicht so an. Männer riechen halt 'n bisschen streng. Sei froh, wenn dich einer anguckt. Nimmt nicht jeder 'n Mädchen mit so strohigen Haaren. Woher du das bloß hast? Von meiner Seite jedenfalls nicht.“
Angelas Magen zog sich zusammen und sie floh in ihr Kinderzimmer zu ihren Barbiepuppen. Nachdem sie sich umgezogen und das neue Kleid in die Wäsche gestopft hatte, nähte sie mit viel zu großen Stichen aus einem alten Taschentuch ein Neckholderkleid für ihre Barbie Trixie und bald war der ekelerregende Übergriff vergessen. Sie bekam Hunger und Lust auf ihren Lieblingsnachmittagsimbiss: Haferflocken mit gesüßtem Kakaopulver, ohne Milch. Sie lief in die blitzsaubere Küche, die sie ganz für sich allein hatte, weil ihre Mutter im Garten das Gemüsebeet jätete, ihr Vater hinter dem Tresen stand, Kirsten ihrer Mutter um die Beine wuselte und Martin sich nach der Shopping-Tour direkt zu einem Freund verdrückt hatte.
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