1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Sie kramte im Küchenschrank und fand einfach kein Kakaopulver. Nur mit Zucker schmeckten die Haferflocken fade, da fehlte das besondere Aroma, die sanfte Vanillenote und die unterschwelligen Bitterstoffe der Kakaobohne. Wäre sie erwachsen gewesen, hätte sie es mit Vibrator-Sex als faden Ersatz für einen leidenschaftlichen Liebesakt verglichen. So nahm sie nur die Erwartung des nagenden Gefühls mangelnder Befriedigung zur Kenntnis. Zimt wäre eine Alternative gewesen, aber der war ebenfalls unauffindbar. Mit einer Mischung aus Ärger und Resignation schob sie die Hände in die Hosentaschen und fühlte, dass da etwas war. Sie zog es heraus: Es war ein Tütchen mit Brausepulver, Orangengeschmack. Vor ihrem geistigen Auge stand das Bild eines glutheißen Sommertages. Sie war barfuß, nur mit einem leichten Baumwollfähnchen bekleidet auf dem staubigen Parkplatz der Dorfmolkerei. Sie hielt einen wachsbeschichteten Pappbecher in der Hand, der wie ein flaches Tortenstück gefaltet war. Man musste gegen die Knickfalten drücken, dann hatte man einen spitzen Becher, in dem unten goldgelbes Brausepulver verheißungsvoll auf seine wahre Bestimmung wartete. Der Außenwasserhahn des Molkereigebäudes war direkt neben ihr, er hatte die Form eines Flügelwesens. Sie drehte ihn auf und ließ das kühle, klare Wasser in den Becher strömen. Die Brause schäumte auf, bildete eine Krone, die sich sofort wieder zersetzte und den Blick auf eine goldgelbe Flüssigkeit preisgab. Wenn man den Becher an die Lippen führte, kitzelten einen winzige Spritzer der Natriumhydrogencarbonat-Explosionen in der Nase. Jetzt musste man schnell trinken. Der erste Schluck war eine Offenbarung: ein süß-saures Prickeln auf allen Mundschleimhäuten, aber schon den zweiten Schluck empfand sie als banal und der Rest war nur noch eklig süß und schmeckte nach Mangel und Ersatzbefriedigung. War es möglich, das Prickeln heraus zu zögern, indem man das magische Pulver mit einem gänzlich neuen Stoff verband? Mit Haferflocken? Sie füllte Flocken in das Dessertschälchen aus geschliffenem Glas. Nur zwei Esslöffel, damit das Kribbelpulver nicht vom staubigen Getreidegeschmack erstickt wurde. Sie mischte sorgfältig das orangefarbene Pulver unter und bewunderte das Farbenspiel. Dann probierte sie:...und war überwältigt! Ein neuer Seelentröster war geboren: Brauseflocken.
Am kommenden Tag wurde Angela – nachdem sie ausgiebig lange geschlafen hatte – von ihrer Mutter dazu verdonnert, bis zum Mittagessen frische Erbsen aus ihren Schoten zu befreien. Sie verarbeitete zwei Zehn-Liter-Eimer und ihre Finger färbten sich grün und schmerzten. Martin hatte sich wie selbstverständlich auf den Handballplatz verzogen, es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Nach dem Mittagessen entschloss sie sich, eine Spielkameradin aufzusuchen. Da der Weg zu Petra, die ebenfalls im Ortskern wohnte, wenn auch auf einem Bauernhof, der kürzeste war, erklärte sie ihrer Mutter, was sie vorhatte.
„Aber steh da nicht im Weg rum und halt' die Leute von der Arbeit ab!“, ermahnte sie die Mutter.
Petra war zu Hause und spielte mit dem Ball, als Angela auftauchte. „Um drei kommt Conni.“, sagte Petra. „Wir wollen im kleinen Wald 'ne Bude bauen.“
„Darf ich dann mit?“, fragte Angela.
„Klar.“, antwortete Petra. „Wieso nicht?“
Eine ganze Stunde lang beschäftigten sich die Mädchen damit, den Gummiball mit dem Fuß aufs Scheunendach zu schießen und anschließend wieder aufzufangen. Das gestaltete sich als echte Herausforderung, weil sich die Flugbahn des Balles durch den Aufprall auf den wellenförmigen Dachpfannen als höchst unberechenbar erwies. Nicht nur wegen stetiger Übung zeigte Petra sich bei diesem Spiel erheblich geschickter als Angela, denn Petra spielte im Ballsport alle an die Wand; sie traute sich etwas zu und weil sie dieses Selbstvertrauen auch nach außen ausstrahlte, schätzten ihre Mitspieler sie ebenfalls als besonders kompetent ein. Diese positive Wechselwirkung machte aus ihr eine traumwandlerische Balltänzerin, die vor allem die Jungen um ihr Talent beneideten. Bei Angela funktionierte die Dynamik in die entgegengesetzte Richtung: Sie hatte Angst vor dem Ball, konnte Geschwindigkeiten und Entfernungen schwer einschätzen und reagierte oft verzögert, so dass gemeine Lacher und abwertende Bemerkungen ihre Unsicherheit steigerten und damit auch ihre Ungeschicklichkeit verstärkten. Petra dagegen enthielt sich solcherlei Demütigungen, freute sich zwar an ihrer Überlegenheit, die ihr aber eher eine stoische Ruhe verlieh, denn ein schadenfrohes Zerfetzen des Selbstwertgefühls anderer Kinder. Sie machte harmlose Witze, die Angela nicht verletzten, wenn sie sich ungeschickt anstellte, ermutigte sie, es erneut zu versuchen und lobte gönnerhaft ihre gelegentlichen Glücksgriffe.
Pünktlich um 15.00 Uhr erschien Cornelia im dezenten, fast gerade geschnittenen, lindgrünen Blümchenkleid, mit schmalen Schleifenbändchen als Träger, dessen Farbe perfekt mit ihren feuerroten Locken und den smaragdgrünen Augen harmonierte.
„Ich will aber auf keinen Fall Ball spielen!“, stellte sie anstelle einer Begrüßung umgehend klar, in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete. Cornelia war trotz ihres gesunden Selbstwertgefühls eine Verächterin von Ballspielen, weil auch sie mit verzögerten Reflexen zu kämpfen hatte. Wenn allerdings auf einem Kindergeburtstag die Mehrheit sich für Fang- und Wurfspiele entschied, ließ ihr ausgeprägter Ehrgeiz sie zu Höchstform auflaufen, so dass sie nie durch desaströses Versagen unangenehm auffiel.
„Nee, nee.“, beruhigte Petra sie. „Wir hatten ja gesagt, dass wir im kleinen Wald spielen.“
„Kommst du auch mit?“, wandte Cornelia sich freundlich an Angela. Die nickte stumm. Dann begann Cornelia plötzlich zu kichern: „Wir müssen nur aufpassen, dass Imke uns nicht sieht. Sonst will die noch mitmachen und wir müssen wieder die ganze Zeit blöde Liebesfilme nachspielen, wo sie die schöne Dame ist und wir die knackigen Männer.“
„Bloß nicht!“, stöhnte Petra. „Lass uns einfach zur Kreuzung gehen bis zu Schneider-Niemanns und dann in die Buchhorst. Dann merkt sie vielleicht nichts.“
„Und wenn doch“, überlegte Cornelia, „sagen wir einfach, wir gehen zu Angela und ihre Mama hätte gesagt, sie dürfte heute nur zwei Kinder mitbringen.“
Imke wohnte nebenan und war ihre Klassenkameradin. Sie spielten durchaus mit ihr und luden sie auch zum Geburtstag ein, aber Kindern geht es manchmal wie Erwachsenen: manche Bekanntschaften lassen sich nur in homöopathischen Dosen ertragen.
In der nachmittäglichen Sommerhitze schlenderten die Mädchen zum Verkehrsknotenpunkt Nordhemmerns, an dessen einziger mit Stopp-Schildern versehener Kreuzung sich ein Bauernhof, eine alte Scheune, der Dorfkrug, den Angelas Eltern betrieben, ein Bäckerei- und Lebensmittelladen sowie eine Texaco-Tankstelle mit Auto- und Fahrrad-Werkstatt in den Räumen der alten Schule befanden. Ehrwürdige alte Eichen und Kastanien boten kühlenden Schatten, bevor sie wieder schutzlos der brennenden Sonne und dem unter den nackten Füßen nachgebenden Asphalt ausgeliefert waren. Sie gingen vorbei an der kleinen Spar- und Darlehenskasse, auf deren Hof sich die einzige Telefonzelle des Dorfes befand und an einer Weide mit Rindern, bei denen es sich um heranwachsende Versen, also angehende Milchkühe handelte. Sie passierten achtlos die Auslagen des Bekleidungsgeschäftes Niemann und bogen ein in die schmale Straße, an der ihr sogenannter „Kleiner Wald“ lag. Tatsächlich handelte es sich um eine Gruppe fünf alter Eichen, zwei waagerecht lagernden hohen Teilstücken sehr alter, sehr dicker Baumstämme, ein paar Holunderbüschen im Unterholz, sowie trockenem Laub, Eicheln, Taubnesseln, Brennnesseln und Giersch. Ein perfekter Ort, um abenteuerlichen Kinderphantasien einen behüteten Rahmen zu geben.
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