Cornelias feine Antennen, die bei ihr früher ausgeprägt waren als bei ihren Altersgenossinnen, verrieten ihr, wie sehr Iris und Angela unter ihrer Mittellosigkeit litten. Sie ertrug es nur schwer, wenn andere offensichtlich unglücklich waren. „Ich kann euch was leihen.“, bot sie den beiden großzügig an. „Ich habe noch eine Mark zwanzig, die brauche ich nicht, dann könnt ihr euch auch noch was kaufen.“
„Nee, lass mal.“, antwortete Iris, denn sie wusste ja, dass sie Cornelia das Geld nicht zurückzahlen konnte. Angela dagegen nahm das Angebot an. Sie wusste nämlich, wo ihre Mutter das Portemonnaie für ihre Einkäufe aufbewahrte und konnte so unbemerkt das Geld stibitzen, das sie Cornelia am folgenden Tag zurückzahlen würde. Dabei blieb sie aber bescheiden. „Kannst du mir 20 Pfennig leihen?“ „Klar.“, sagte Cornelia und gab ihr das Geld. Angela kaufte ebenfalls zwei Tüten Brausepulver und schenkte eine davon Iris.“
Iris war überwältigt. „Aber das ist doch deine.“, sagte sie. „Du musst mir doch nichts abgeben.“
„Doch. Die schenke ich dir.“, sagte Angela beharrlich und Iris bedankte sich.
Als die Kinder wieder den Bus bestiegen, erlebten sie eine Sensation: Nicole und Eckart setzten sich nebeneinander und das Gekicher und Getuschel nahm kein Ende.
Sie waren schon eine Weile unterwegs, da hörte Iris, wie Jörg sich wispernd an Petra wandte: „Ich weiß was von Nicole.“, tuschelte er und flüsterte Petra dann etwas ins Ohr, was für Iris unverständlich blieb. Petra kicherte begeistert und gab das Gehörte ebenso geheimnisvoll an Cornelia weiter. Überall im Bus wurde geflüstert und Iris Neugier, was es wohl so Spannendes von Nicole zu erfahren gab, wich einer wachsenden Furcht, dass es sich nicht etwa um einen Nicole betreffenden Skandal handelte, sondern dass Nicole etwas ausgeplaudert hatte, was sie, Iris, ihr anvertraut hatte, denn niemand weihte Iris in die Sensationsmeldung ein, statt dessen grinsten sie alle nur scheel an und wandten sich dann kichernd ab.
Vor wenigen Wochen hatte Nicole sich mit Iris zum Spielen verabredet. Sie hatten Nicoles Kaninchen gestreichelt, hatten mit ihren Barbiepuppen gespielt und schließlich auf dem Rasen Kränze aus Gänseblümchen geflochten, das heißt, Nicole hatte einen Kranz geflochten, Iris hatte es nur erfolglos versucht, da halfen auch Nicoles fachfrauliche Ratschläge nicht. Sie hatten sich über die Jungen in ihrer Klasse unterhalten und das Gespräch war auf Heiko gekommen.
„Heiko ist richtig nett, finde ich.“, sagte Iris. „Die anderen Jungen sind immer so doof und gemein und ärgern. Aber Heiko überhaupt nicht.“
„Stimmt.“, gab Nicole ihr Recht. „Und der sieht auch süß aus. Der hat so braune Augen, die finde ich toll.“
„Ja, braune Augen finde ich auch toll. Und im Sommer wird der auch immer so schnell braun, das sieht total schön aus.“
„Ja, er sieht gut aus und er ist nett. Würdet du Heiko mal heiraten?“, fragte Nicole.
Iris wurde rot und starrte auf die Gänseblümchen in ihren Händen, während Nicole sie verstohlen musterte. Dann antwortete sie: „Weiß nicht. Ich will ja jetzt noch nicht heiraten.“
„Aber du bist ein bisschen verliebt, gib es zu!“
„Na ja, ein bisschen schon.“
„Also ich könnte mir gut vorstellen, Heiko mal zu heiraten.“, überlegte Nicole. „Du heiratest ja auch bestimmt mal Peter.“
„Das glaube ich nicht.“, erwiderte Iris. „Wir spielen auch gar nicht mehr zusammen.“
„Na ist ja auch egal.“, antwortete Nicole. „Wollen wir wieder rein gehen? Mir ist kalt.“
Jetzt saß Iris mit klopfendem Herzen im Bus, fassungslos über den Verrat, mit einem Rest Hoffnung, dass Nicole vielleicht doch nichts ausgeplaudert hatte, weil Iris ja genauso herumerzählen konnte, dass Nicole ebenso in Heiko verknallt war wie sie. Nur, auch das war ihr klar, hätte ihr das niemand geglaubt, weil aktuell alle davon überzeugt waren, dass Nicole und Eckhart ein Paar waren.
Am kommenden Tag spielten die Mädchen in der großen Pause ihr Lieblingsspiel: Alle stellten sich in eine Reihe mit dem Rücken zur Wand. Ein Mädchen stellte sich der Gruppe gegenüber und sang ein Lied, in dessen Rhythmus sie immer vor und zurück marschierte. Petra war diejenige, die diese Aufgabe gewählt hatte. Sie sang und steigerte die Spannung, bis sie zu den entscheidenden Zeilen gelangte: „...die Nicole saß am Fenster und knackte eine Nuss, und knackte eine Nuss, da kam der liebe Eckhart und gab ihr einen Kuss. Der Eckhart hat geschrieben, ich liebe dich so sehr, ich liebe so sehr. Ich liebe keine andre, als dich mein gold‘ner Stern.“
Das Gelächter war groß, aber Nicole, sich Eckharts Gegenliebe gewiss, lachte strahlend und selbstbewusst und steckte mit Petra die Köpfe zusammen, um gemeinsam das nächste Opfer auszusuchen. Iris war furchtbar aufgeregt und dann kamen die entscheidenden Zeilen: „...die Conni saß am Fenster...“
Erleichterung breitete sich von Iris Körpermitte bis in die Zehen und Fingerspitzen aus, während Cornelia ängstlich erblasste.
„...und knackte eine Nuss. Da kam der liebe Stefan...“
Entsetzt schlug sich Cornelia die Hände vors Gesicht und rief: „Nein, der ist eklig!“ und alle lachten begeistert. Nun war auch Cornelia vor weiteren Angriffen sicher und trat mit Petra und Nicole zusammen, um die nächste Demütigung auszuhecken. Angela hoffte heimlich, die Wahl würde auf sie treffen, damit sie auch einmal das nächste Opfer bestimmen konnte, aber sie wagte kaum, darauf zu hoffen und die farblose Birgit tat das noch viel weniger. Was hätte Iris in diesem Moment darum gegeben, mit ihnen zu tauschen, denn es bestand ja nach wie vor das Risiko, dass sie als nächste dran kam.
„...die Iris saß am Fenster...“
Sie hörte den Pulsschlag in ihren Ohren hämmern.
„... und knackte eine Nuss, und knackte eine Nuss, da kam der liebe Heiko und gab ihr einen Kuss...“
Glutrot ließ Iris die Prozedur über sich ergehen und als wenn das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kam in eben diesem Augenblick Heiko den Mädchen bedrohlich nahe, um einen verloren gegangenen Ball aus den Büschen zu holen. Er horchte auf und rief dann: „Iris ist aber viel doller in Peter verknallt als wie in mich.“
Iris, einerseits dankbar für Heikos Entschärfung der Situation, empfand andererseits aufgrund ihres natürlichen Sprachgefühls und Empfindens für korrekte Grammatik einen sich auftuenden Graben gegenüber dem Objekt ihrer Begierde. Heiko mochte noch so schöne braune Augen und Arme haben, er sprach wie ein Vollidiot. Das tötete augenblicklich jedes zärtliche Gefühl in ihr ab. Nachdem sie die Peinlichkeit endlich überstanden hatte, gesellte sie sich mit Begeisterung zu den drei anderen Jury-Mitgliedern, beteiligte sich an der Auswahl und sang euphorisch das Lied mit: „Die Angela saß am Fenster und knackte eine Nuss...“
Zitternd kehrte Iris in ihr Elternhaus zurück und setzte ihre Schwester Simone von dem Leichenfund in Kenntnis. Iris war mit drei älteren Schwestern aufgewachsen: Marlies Simone und Anke. Simone hatte das Haus der Eltern übernommen, als sie sich vor ein paar Jahren ins Altenheim in Hille einquartiert hatten und war mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus der Mindener Mietwohnung zurück nach Nordhemmern gezogen. Jetzt gehörte ihr das Haus, ihre drei Schwestern hatten die nicht unerheblichen Ersparnisse ihrer Eltern unter sich aufgeteilt. Auch wenn das Erbe nicht ganz gerecht verteilt war, so waren die anderen doch froh, dass ihnen der Zugang zum Ort ihrer Kindheit weiterhin nicht verwehrt blieb, ohne dass sie sich darum kümmern mussten.
Im vergangenen Jahr war ihre Mutter gestorben, im Februar diesen Jahres ihr Vater. Heute wäre er Neunzig Jahre alt geworden und darum war Iris aus Melle angereist, um die Gräber neu zu bepflanzen, denn Simone hatte in dieser Woche keine Zeit, weil sie mit ihrer Familie über Fronleichnam zu einem Kurzurlaub nach Berlin aufbrechen wollte. Iris bewohnte an diesem Wochenende ihr leer stehendes Elternhaus und traf sich mit vier ehemaligen Mitschülerinnen, mit denen sie 13 Jahre lang die Schulbank gedrückt hatte, am morgigen Feiertag zum Kaffeetrinken in Nicoles Elternhaus.
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