„Manche Leute haben einfach keinen Respekt.“, dachte sie. Sie versteckte die harke im unteren Bereich der Hecke, wie das fast alle auf dem Nordhemmer Friedhof taten. Dann entschloss sie sich zu einem kleinen Rundgang zur Entspannung. Es war ein heißer Tag. Nur ein leichter Windhauch strich durch die Büsche. Vor ein paar Jahren hätte er die Zweige und Blätter der riesigen Baumkronen bewegt. Fast neben ihrer Grabstelle hatte eine beeindruckende Rotbuche gestanden, aber auch fünfzigjährige Birken, Schiffsmast-lange Kiefern und eine fruchtreiche Wildkirsche hatten dem kleinen Dorffriedhof den Charakter eines altehrwürdigen Schlossparks verliehen. Den Mittelpunkt bildete ein Betonkreuz in vermeintlicher Golgatha-Originalgröße, abgestützt von einer oxidierten Eisenstange und umgeben von violetten und gelben Stiefmütterchen in krümeliger, schwarzer Grab-Erde. Die dichten Eiben-Hecken in Kniehöhe, die die Grabstellen vom Weg und voneinander abgrenzten, erinnerten erst recht an einen klassischen Barockgarten. Aber das Abholzen der Bäume hatte die wildromantische Idylle in ein flurbereinigtes, ostwestfälisches Gräberfeld verwandelt. Die Bäume hatten ihren Tribut gefordert: Ein Mann war beim Fällen der Rotbuche gestorben. Als sein Kolleg sich abmühte, die verkeilte Kettensäge aus dem Stamm zu reißen, landete das Werkzeug in seinem Unterleib und ließ ihn innerhalb weniger Minuten verbluten. Jedes Mal, wenn Siegrid Röthemeier den Baumstumpf ansah, ließ sie die Erinnerung an dieses Ereignis erschaudern.
Sie schlenderte die fein geschotterten Wege entlang, vorbei an sehr alten Grabsteinen, aber auch an frischen Gräbern. In der Mitte des Friedhofs war heute das Grab für Gisela Wiebeking ausgehoben worden. Sie hatte ihren Mann nur um zwei Jahre überlebt, er war 2014 brutal ermordet worden und nun saß ihr Sohn Heiko allein auf dem Hof. Nachdenklich blieb Siegrid Röthemeier allein vor dem Grab stehen. Die neben der Öffnung aufgeschichtete Erde wirkte irgendwie unordentlich, keine klare Silhouette wie normalerweise. „Welcher Schlunz war denn da am Werk?“, dachte sie. „Hat der die Grube überhaupt ordentlich ausgehoben?“
Sie stieg über die Hecke und sah ins offene Grab. Sie glaubte nicht, was sie da sah, es war zu entsetzlich. Aber als müsste sie sich jede Sekunde selbst überzeugen, dass sie keiner Sinnestäuschung aufgesessen war, schaffte sie es nicht, den Blick abzuwenden. Zwei wie weggeworfen, verrenkte, blutverschmierte Körper lagen in der Grube. Ein Junge und ein Mädchen. Sie schrie und weinte, zitterte und schrie von neuem, bis ihr nach einer Ewigkeit Anneliese Gieseking und Ilse Buhrmester zur Hilfe eilten – um dann selbst vor Fassungslosigkeit zu erstarren.
Anneliese Gieseking war die erste, die es wieder schaffte, klar zu denken. Sie lief zum Parkplatz, um nach Hause zu fahren und die Polizei zu informieren. Zum Glück traf sie an der Pforte Kerstin Gudat, die ein Mobiltelefon dabei hatte. Nun hielten alle vier Frauen Wache am Grab und warteten auf die Polizei. Anneliese Gieseking sagte: „Das sind, glaube ich, Tiemanns Nele und Borcherdings Sören.“
„Von Borcherdings von der Besenstraße?“, fragte Ilse Buhrmester mit bebender Stimme.
„Ja, von dem Thorsten, aber der hat ja Schlüters Heike aus Buschhausen geheiratet und die haben doch da auf unserem Land gebaut. In den Eichen heißt das doch jetzt.“
„Ich hätt' die beiden nicht erkannt.“, schluchzte Siegrid Röthemeier. „Ich kannte die auch kaum und dann sind die so schrecklich zugerichtet. Hört das hier denn nie auf? Vor zwei Jahren Brammaars Karl und der Pastor und der Holzhauser Küster und jetzt sogar zwei Kinder.“
„Na, der Mörder von damals kann es jawohl nicht gewesen sein.“, sagte Anneliese Gieseking. „Den haben sie ja geschnappt, der sitzt ja hinter Schloss und Riegel.“
Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis ein Streifenwagen eintrudelte, um den Tatort zu sichern und erste Zeugenbefragungen durchzuführen. Nach einer weiteren Stunde fand sich die Bielefelder Mordkommission ein. Ein zerknautschter Mittfünfziger und seine hübsche, junge Kollegin stiegen über die Absperrung.
„Und was haben wir hier?“, fragte der Mann übellaunig.
„Sind Sie nicht Kriminalhauptkommissar Keller? Stefan Keller?“, fragte einer der örtlichen Streifenpolizisten.
„Kennen wir uns?“, lautete Kellers argwöhnische Gegenfrage.
„Wir haben vor zwei Jahren schon einmal zusammengearbeitet.“, antwortete der Beamte. „Der Serienmörder, der alle beschnitten hat. Ich bin Polizeiobermeister Lutz Helling.“
„Ach so.“, sagte Keller. „Ja, ich erinnere mich. Ich hatte eigentlich gehofft, nie wieder in dieses gottverlassene Nest zurückzukehren. Wo sind denn die Leichen? Es sind doch zwei, oder?“
Stumm zeigte Polizeiobermeister Helling in das offene Grab. Kommissarin Sabine Kerkenbrock war bereits vorgetreten, gab einen leisen Aufschrei des Entsetzens von sich und biss sich in die Knöchel der rechten Faust. Keller blickte in das dunkle Loch und merkte, wie auch ihm alles Blut in die Beine sackte. „Oh mein Gott!“, stieß er hervor. Die kleinen Kinderkörper lagen verrenkt und ineinander verkeilt in der feuchten dunklen Erde, teilweise vom krümeligen Sandboden und festen Lehmklumpen bedeckt. Die Köpfe waren blutig und deformiert, die Kleidung schmutzig und zerrissen. Sie sahen aus, als wären sie unter die schweren Stiefel einer Rotte von Skinheads geraten. Die Beamten der KTU machten Gipsabdrücke von Fußspuren, sammelten Fasern und andere Kleinteile ein, etikettierten und fotografierten. Schließlich wurden die Kinder aus dem Grab gehoben. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt, sie waren also vor höchstens drei Stunden gestorben. Gerichtsmedizinerin Konstanze Flegel nahm die kleinen Leichen in Augenschein und sprach ihre ersten Beobachtungen in ein Diktiergerät: „Zwei Kinder zwischen sieben und zehn Jahren, keine Leichenstarre, deutlich verringerte Körpertemperatur, beim Jungen rechte Gesichtshälfte mit starken Prellungen, Knochenbrüchen und offenen Wunden übersät, Knochenbrüche an Unterarmen und Händen, linke Kniescheibe heraus gerutscht, innere abdominale Verletzungen nicht auszuschließen. Beim Mädchen Nasenbeinbruch, herausgebrochene Schneidezähne, Hämatome am Hals, unnatürliche Stellung des Kopfes, also Verrenkung oder Bruch der Halswirbelsäule, ebenfalls Hinweise auf abdominale innere Verletzungen, zahlreiche Schürfwunden an den Extremitäten.“
„Was ergeben die Zeugenaussagen?“, wandte Keller sich an Polizeiobermeister Helling. Der teilte den Kommissaren detailliert den genauen Ablauf des Leichenfundes und die vermeintliche Identität der Opfer sowie deren Adressen mit. Sabine Kerkenbrock machte sich Notizen. „Hat schon jemand die Angehörigen informiert?“, fragte sie.
„Von uns keiner.“, antwortete Polizeiobermeister Helling. „Ich weiß aber nicht, ob die Zeugin mit dem Mobiltelefon in der Zwischenzeit jemanden angerufen oder eine SMS verschickt hat.
Eine Frau mit aufgeschrecktem Blick näherte sich dem Tatort. Kerkenbrock machte Keller wortlos darauf aufmerksam. Der wandte sich an die Zeuginnen und raunte: „Ist die Frau da drüben mit einem der Kinder verwandt?“
„Nein.“, antwortete Anneliese Gieseking. „Das ist Iris Sander. Ihr Vater ist vor ein paar Monaten gestorben, wäre heute neunzig geworden. Sie will bestimmt sein Grab besuchen.“
Iris Sander kam langsam näher. Als sie den Tatort fast erreicht hatte, ging Anneliese Gieseking ihr entgegen.
„Was ist denn hier los?“, fragte sie verstört. Sie war groß und schlank, trug leger geschnittene Kleidung aus Leinen oder Hanf, halboffene Edel-Öko-Schuhe und stufig geschnittenes schulterlanges Haar mit blonden Strähnen. Ihr hageres Gesicht mit den riesigen, blauen Augen wirkte auf Kerkenbrock irgendwie asymmetrisch. Sie wusste nicht warum, aber dieses Attribut setzte sich augenblicklich fest in ihrem Kopf und verschmolz untrennbar mit dieser unkonventionellen Frau, die sie auf Mitte Vierzig schätzte.
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