„War er verändert?“, fragte Kerkenbrock. „Entwickelte er neue Gewohnheiten, wirkte ängstlich oder geheimnisvoll?“
„Nein. Er war genauso wie immer.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Wenn ich die Drecksau erwische, die das getan hat, mach ich den fertig!“
„Das überlassen Sie bitte uns.“, erwiderte Keller.
Als die Polizisten sich verabschiedeten und der Psychologe seine weitere Unterstützung anbot, lehnte Thorsten Borcherding dankend ab. Kerkenbrock warf einen letzten Blick in den Garten, auf das trügerische Familienidyll vor den Kaninchenställen. Nichts würde mehr so sein, wie es war.
Der Bus mit der Klasse 3a der Nordhemmer Grundschule bog gemächlich auf den Parkplatz des Zoos Osnabrück ein. Wie ein Sterbender Wal spie er die lärmende Kinderbande aus, von der die ersten schon zielstrebig Richtung Eingang rannten, als Herr Kowalski, der Klassenlehrer sie energisch zurück pfiff.
„So, jetzt stellt euch mal schön alle in einer Zweierreihe auf, damit Euch die Leute an der Kasse auch zählen können, und ihr bleibt ganz dicht hinter mir.“
Die dicke Petra und die rote Cornelia bildeten das erste Paar hinter dem Grundschullehrer. Seine kalkweißen Beine steckten oben in grauen Herren-Shorts mit Bügelfalte und unten in Socken mit in gedeckten Farben gehaltenem Rautenmuster und braunen Ledersandalen. Die langen, schwarzen Haare, die sich sogar auf den blassen Oberschenkeln kringelten, ließen die Mädchen in albernes Gekicher ausbrechen. Herr Kowalski übte sich in souveräner Ignoranz und führte die Kinder zur Kasse, wo er eine Gruppenkarte löste. Dann verkündete er: „Ihr dürft jetzt in Gruppen zu mindestens drei oder auch mehr Kindern durch den Zoo laufen. Wir treffen uns in zwei Stunden, also um halb zwölf am Spielplatz, der ist da vorne. Da könnt ihr dann noch eine halbe Stunde spielen oder zum Kiosk gehen. Um Punkt zwölf sammeln wir uns am Ausgang und gehen gemeinsam zum Bus. Keiner verlässt vor mir den Zoo. Habt Ihr noch Fragen?“
„Herr Kowalski“, meldete sich Henning, „ich habe keine Uhr.“
„Überall im Zoo hängen welche“, erklärte der Lehrer und ansonsten könnt ihr ja auch die anderen Zoobesucher fragen. Sonst alles klar?“
Zustimmendes Gemurmel ertönte.
„Na dann ab mit euch!“
Petra und Cornelia wurden sofort von Nicole angesteuert, Angela und Iris taten sich zusammen und nahmen noch Birgit mit ins Boot. Zu Beginn blieben zunächst alle Kinder auf einem Haufen. Aber während Petra Cornelia und Nicole das unglaubliche Rosa der Flamingos eingehend bewunderten, rannten einige Jungen sofort ins Tropenhaus zu den Schlangen und Echsen, andere zu den Elefanten und Angela, Iris und Birgit sahen sich brav alle Vogelarten an, die der Zoo zu bieten hatte. Beim Elefantengehege trafen sich die beiden Mädchenkleeblätter.
„Guck mal, der kleine Elefant!“, rief Nicole. „Sieht der nicht putzig aus?“
„Ja, der ist wirklich süß.“, bestätigte Cornelia, während Petra mit den Schultern zuckte.
„Sieht doch genauso aus wie die Großen, nur kleiner.“
Eine Elefantenkuh trompetete energisch. Birgit fuhr vor Schreck zusammen und Iris tätschelte ihr zur Beruhigung den Rücken. „Die sind ja eingesperrt.“, beschwichtigte Angela sie.
„Birgit, hast du etwa Angst vor dem Elefanten?“, fragte Petra. „Was machst du erst, wenn du Tiger siehst? Pisst du dir dann in die Hose?“
Birgit schwieg errötend.
„Du bist so gemein.“, tadelte Cornelia Petra, kicherte aber beifällig. Nicole schwieg.
Beim Bärengehege standen Jörg, Andreas, Michael und Eckhart. Sie trommelten sich auf die Brust, um die Bären zu provozieren. Petra baute sich vor den Jungen auf und stemmte die Hände in die stämmigen Hüften. „Habt ihr einen an der Pfanne?“, fragte sie großkotzig. „Das sind doch keine Gorillas.“
„Die Weiber.“, stöhnte Andreas. „Ihr seid doch selber nicht ganz klutendicht.“
„Wo sind eigentlich die Gorillas?“ fragte Michael.
„Das Affenhaus ist da hinten.“, rief Nicole eifrig und mit großen Augen. „Ich weiß das, ich war hier schon mal mit meinen Eltern.
„Na und?“, fragte Andreas blasiert, „Ich war hier schon öfters.“
„Ach“, hakte Nicole nach, „und weißt du auch wie die Baren da heißen?“
„Klar. Die heißen Manni, Tommi und Fridolin.“
„Bist du doof!“, tadelte Nicole ihn. „Das sind Braunbären und Schwarzbären.“
„Und Eisbären.“, ergänzte Eckhart.
„Quatsch!“, widersprach Cornelia. „Die Eisbären sind weiter hinten.“
„Woher willst du das denn wissen, Streuselkuchengesicht?“, fragte Jörg. „Wohnst du hier im Zoo?“
„Nee“, antwortete Cornelia, „aber ich war auch schon öfter mit meinen Eltern hier. Wir fahren nämlich manchmal nach Osnabrück zum Einkaufen und danach noch in den Zoo.“
„Zum Einkaufen?!“, krakeelte Andreas, „das kann man doch auch in Nordhemmern.“
„Aber keine Anziehsachen.“
„Doch, bei Niemanns.“, widersprach Jörg.
Jetzt mischte Petra sich ein: „Da gibt’s doch nur Schlüpfer und Schlipse.“
„Die haben auch Hemden und Hosen.“, widersprach Eckhart.
„Aber was für welche.“, schloss Petra die Diskussion und musterte Eckhart von oben bis unten mit aller ihr zur Verfügung stehender Herablassung. Die Jungen stürmten zum Affenhaus, wo schon die nächsten Opfer auf sie warteten. Während Angela, Iris und Birgit sich still über die faszinierende Menschenähnlichkeit der Paviane auf dem Affenfelsen amüsierten, boten die Jungen die perfekte Parodie der Zwergprimaten. Die Mädchen bemühten sich, sie zu ignorieren, aber echte Affenmännchen duldeten keine Respektverweigerung. „Ey, guck mal!“, brüllte Andreas vor Vergnügen. „Der Affe da vorne hat genauso ‘n roten Arsch wie Angela Kreft!“
Angela trug eine hellrote Cordhose und die Jungen brachen in ein lautstarkes und bewegungsintensives Gelächter Kollektivgelächter aus.
„Aber die da vorne“, rief Jörg, „bei der ist der Hintern genauso dick wie der von Petra Gieseking.“
„Und guck dir mal die Titties an!“, schrie Andreas. „Petra Pavian. Die frisst den anderen Affen bestimmt immer die ganzen Süßigkeiten weg!“
„Doofmänner!“, schnaubte Iris. „Ihr seid doch selber blöde Affen!“
Mit eiligen Schritten zogen die Mädchen weiter zu den Schimpansen und Gorillas. Birgit erklärte: „Mit Jungen, die Arsch und andere schlimme Wörter sagen, soll ich überhaupt nicht spielen.“
„Ach, das mit dem Arsch fand ich gar nicht so schlimm.“, erklärte Angela. „Aber dass sie gesagt haben, dass Petra einen dicken Hintern hat, das war so fies.“
„Und erst recht das mit dem Busen.“, erklärte Iris. „Petra kann doch nichts dafür, dass das bei ihr schon anfängt zu wachsen.“
„Das kann ja auch eine Krankheit sein.“, bemerkte Birgit altklug und alle drei fühlten sich den bösen Jungen moralisch haushoch überlegen, obwohl sie sich heimlich, jede für sich ein bisschen freuten, dass Petra und nicht sie die Zielscheibe dieser Schmähungen war, zumal Petra ihnen gegenüber nicht mit kleinen Demütigungen geizte. Aber sie war auch witzig, feierte rauschende Geburtstagsfeste und wohnte auf einem Bauernhof im Dorfkern, der grandiose Möglichkeiten zum Spielen bot.
Die meisten Kinder beeilten sich mit dem Rundgang durch den Zoo, damit noch genug Zeit für den spektakulären Spielplatz blieb, dessen Existenz sich längst herumgesprochen hatte. Die größte Attraktion stellte eine echte, ausrangierte Lokomotive dar, klassisch schwarz-rot lackiert, mit allen erdenklichen Hebeln und Rädchen, die insbesondere die Technik-begeisterten Kinder faszinierten.
Die Jungen erhoben zunächst alleinigen Anspruch auf diese Projektionsfläche männlich-frühkindlicher Berufsträume – schließlich nahmen sie erst seit kurzem am gemeinsamen Handarbeitsunterricht teil, von dem sie noch im letzten Schuljahr - im Gegensatz zu den Mädchen - befreit gewesen waren. Als Iris und Angela das Führerhaus erklommen, versuchte Andreas, sie umgehend auf ihren Platz zu verweisen. „Hier gibt’s nichts für Weiber!“, fuhr er sie an. „Geht schaukeln!“
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