1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 „Wir können auf den Kirschbaum klettern und uns vollstopfen.“, schlug Iris vor.
„Aber das sind doch Wildkirschen.“, wandte Nicole ein. „Die kann man doch gar nicht essen.“
„Wieso denn das nicht?“
„Weil die giftig sind.“
„Ja genau.“, mischte Birgit sich nun ein, „Und was auf dem Friedhof wächst, darf man sowieso nicht essen, weil da die ganzen Toten liegen und das Wasser in der Erde ist ganz voll von Leichengift und die Wurzeln von den Bäumen saugen das ein und dann ist das Leichengift auch in den Kirschen.“
„Das glaube ich nicht.“, widersprach Iris. „Peter und ich haben die schon ganz oft gegessen und wir sind auch nicht gestorben, nicht mal krank geworden.“
„Ich esse die jedenfalls nicht.“, erklärte Nicole schnippisch.
„Ich auch nicht.“, schloss Birgit sich an.
„Aber auf den Baum klettern können wir doch.“, schlug Iris vor.
Als die drei hoch oben im dichten Blattwerk der Kirschzweige thronten, begann Iris eine Frucht nach der anderen zu vernaschen bis die anderen beiden schließlich auch nicht mehr widerstehen konnten. „Die schmecken irgendwie bitter.“, stellte Nicole fest.
„Vielleicht sind die ja doch giftig.“, rief Birgit mit großen, angsterfüllten Augen.
„Ach quatsch.“, widersprach Iris. „Das sind eben Wildkirschen, die schmecken so. Guckt mal, wie weit ich spucken kann.“
Es begann ein erbitterter Wettstreit um die beste Spuckleistung bis jedes Mädchen eine gefühlte Tonne Wildkirschen im Magen hatte und sich der Einsatz eines Laubbesens unter dem Baum durchaus gelohnt hätte.
Als Nicole am Abend im Bett lag, rumorte es in ihrem Bauch und es plagten sie schreckliche Ängste. Was, wenn die Kirschen doch voller Leichengift steckten, das jetzt ihren Körper langsam zersetzte? Vielleicht hatte Iris ja gelogen und in Wirklichkeit vorher noch nie etwas von diesen Kirschen gegessen. In einer Kirsche war ein Wurm gewesen, aber vielleicht waren die Würmer in den anderen Kirschen nur kleiner gewesen und jetzt wuchsen sie in ihrem Bauch und fraßen sie von innen auf, weil sie sie für eine Leiche hielten. Sie war hin- und hergerissen, ob sie sich ihren Eltern anvertrauen sollte, damit die ihr rasch Hilfe zukommen lassen und sie vielleicht noch retten konnten oder ob sie besser noch abwarten sollte, ob das Rumoren von allein wieder aufhörte, damit sie ihren Eltern nicht gleich drei Ungeheuerlichkeiten auf einmal gestehen musste, nämlich Erstens: das Spielen auf dem Friedhof, zweitens: das Klettern auf einen hohen Baum, drittens: das Essen von wilden Früchten, deren Wirkung sie nicht kannte. Ihr Dilemma erledigte sich bald von selbst, weil sie sich mehrmals heftig übergeben musste, und als ihre Mutter das Erbrochene erblickte, fragte sie: „Wo hast du denn so viele Kirschen gegessen? Kein Wunder, dass das alles wieder hoch gekommen ist.“
„Bei Iris.“, wimmerte Nicole leise.
„Aber Sanders haben doch gar keinen Kirschbaum.“
„Aber da war einer in der Nähe.“
„Ihr könnt den Leuten doch nicht einfach die Kirschen vom Baum klauen!“, schimpfte Nicoles Mutter. „Bei wem war das denn?“
„Kenn' ich nicht.“
„Wo seid ihr denn gewesen?“
„Da beim Friedhof.“, gab Nicole mit gespielter Unschuld Auskunft.
„Ach, bei Brünings, meinst du...aber die haben doch nur Apfelbäume.“
Nicole zog es vor zu schweigen, um sich nicht in ein noch dichteres Lügengewirr zu verstricken.
„Nicole, wo wart ihr?“, fragte die Mutter nun äußerst energisch. Voller Verzweiflung begann das Mädchen zu schluchzen: „Ich wollte die Kirschen gar nicht essen, aber Iris hat immer wieder gesagt, die sind gar nicht giftig und dass sie sie schon ganz oft gegessen hat, und dann hat sie mit Wettspucken angefangen und da haben Birgit und ich dann auch welche gegessen. Die waren auch ganz bitter und überhaupt nicht lecker.“
„Wo genau stand der Baum?“, fragte die alarmierte Mutter in scharfem Ton.
„Auf dem Friedhof!“, brach es aus Nicole heraus und endlose Tränenströme schossen aus ihren Augen. Die Mutter raste zum Telefon und rief Familie Sander an: „Ja, n'Abend, hier ist Reinkensmeiers Annegret. Du, unsere Nicole hat gerade ganz schrecklich gebrochen und erzählt mir, sie wäre mit Iris aufm Friedhof gewesen und hätte da Kirschen gegessen. Wisst ihr da was von?“
„Moment“, antwortete Iris Mutter und kam nach wenigen Minuten zurück an den Apparat: „Die haben aufm Friedhof von den Wildkirschen gegessen. Iris geht’s aber gut.“
„Ja, sind die denn des Wahnsinns?“
„Wieso? Das sind ganz normale Wildkirschen, die sind nicht giftig und da wachsen auch sonst keine giftigen Beeren.“
„Ja, aber das tut man doch nicht. Die haben wohl auch die Kerne rumgespuckt. So was geht doch nicht. Das stört doch die Grab-Ruhe!“
„Ach“, versuchte Lieselotte die späte Anruferin zu besänftigen, „der Baum steht auf der Grenze zum Feld, da drunter ist nur Wiese, dann kommen Hecken, dann der Weg, dann noch mal Hecken und dann erst wieder Gräber. So weit spucken die kleinen Mädchen nicht.“
„Na wenn du meinst.“, erwiderte Annegret Reinkensmeier. „Dann entschuldige die späte Störung. Ich muss jetzt auch Nicoles Bett frisch beziehen.“
„Ja, tut mir leid.“
„Ist nicht zu ändern. Tschüss.“
Annegret legte auf. Verabredungen mit Iris würde sie vorerst unterbinden. Nicole sollte einen Teil der Sommerferien ohnehin nutzen, um Rechtschreibung, Zeichensetzung, Multiplikation und Division zu üben. Annegret hatte alles bestellt, was es an unterstützenden Lernmitteln gab und sie würden es Robert Kowalski schon noch beweisen, dass ihre Tochter den Sprung aufs Gymnasium schaffte. Evelyn besuchte die Realschule, die sie in einem Jahr sicher erfolgreich abschließen würde, auch wenn es sie viel Kraft kostete. Aber Nicole war so viel aufmerksamer, wissbegieriger und reaktionsschneller als ihre große Schwester, dass es der blanke Hohn gewesen wäre, sie nach Kowalskis Empfehlung zur Hauptschule zu schicken. Sicher gönnte er den Kindern aus wohlhabenden, geordneten Elternhäusern den weiteren sozialen Aufstieg nicht, weil er es selbst als einfaches Arbeiterkind ziemlich schwer gehabt hatte. Aber was ging Annegret das Schicksal dieses Grundschullehrers an? Sie bezog das Bett neu und gab Nicole ein frisches Nachthemd. Dann deckte sie ihr erschöpftes Kind zu und strich ihr liebevoll eine schweißverklebte Strähne aus der Stirn. „Morgen geht’s deinem Bauch bestimmt wieder besser und dann üben wir beide ein bisschen Diktate.“
„Och Mutti, dazu habe ich gar keine Lust, es sind doch Ferien und das Wetter ist so schön.“
„Nur drei Diktate und ein paar Malaufgaben, das dauert höchstens eine Stunde und morgens ist es ja meistens noch frisch und der Rasen ist noch nass, da macht es noch gar keinen Spaß, draußen zu spielen. Du weißt doch, was Herr Kowalski gesagt hat: Wenn du nicht fleißig übst, schaffst du es nicht aufs Gymnasium. Und selbst dann schaffst du das nächste Jahr alles nur, wenn du in diesen Ferien alles nachholst, was du noch nicht ganz verstanden hast. Und stell dir mal vor: nachher gehen Cornelia und Petra und viele andere aus deiner Klasse alle nach Minden zur Schule und du musst nach Hille. Dann bist du doch bestimmt traurig. Aber jetzt schlaf' gut und träum' was Schönes.“
Brav schloss Nicole die Augen, um nur alles richtig zu machen und nicht womöglich im nächsten Jahr aus dem Rennen zu sein, wenn der Schulwechsel anstand.
Es war schon 09.30 Uhr, als Petra Gieseking die Augen aufschlug und vom Bett aus den vertrauten Blick aus dem Fenster genoss. Sie war ihrem Bruder Dirk ganz besonders dankbar dafür, dass er das Gästezimmer in ihrem alten Kinderzimmer eingerichtet hatte und sogar die Position des Bettes beibehalten hatte. So fühlte sie sich immer noch zu Hause, wenn sie zu Besuch war. Die Entscheidung war ihm sicher leicht gefallen, denn Petras ehemaliges Zimmer lag nach Norden raus und war weder besonders groß noch besonders glücklich geschnitten. Aber für Petra bedeutete es Geborgenheit, zumal ihre Mutter auch immer noch auf dem Hof lebte und die vertraute Küche sowie die beiden Wohnzimmer (einen Alltagsraum und eine gute Stube) bewohnte. Nur zum Schlafen war die Mutter in die ehemalige Knechte-Kammer gezogen, das ersparte ihr die Treppen und bot der jüngeren Generation im ersten Stock die Intimsphäre, die sie brauchten, um nicht mit der resoluten Anneliese aneinanderzugeraten.
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