„Au ja und dann stechen wir lauter Sterne aus.“
Sie gingen in die saubere, aufgeräumte Küche und Cornelia kramte ein Kinderbackbuch aus dem Küchenschrank. Schnell fanden sie ein einfaches Butterplätzchen-Rezept und stellten die Zutaten zusammen.
„Letzte Woche war Iris hier.“, erzählte Cornelia. „Da haben wir Sandkuchen gebacken. Der ist aber ganz komisch geworden, so wabbelig, wie Mausespeck.“, sie kicherte.
„Mit Iris verabrede ich mich fast gar nicht mehr.“, erklärte Nicole spitz.
„Wieso nicht?“
„Die ist irgendwie komisch. Meine Mutti hat das auch nicht so gerne.“
„Ich finde Iris manchmal 'n bisschen langweilig“, bemerkte Cornelia, „aber schlimm ist sie nicht.“
„Nein, nicht schlimm, nur komisch. Mutti sagt, die ist nichts für mich, ich soll lieber mit dir spielen. Du bist auch besser in der Schule.“
„Iris ist doch auch gut in der Schule.“
„Na, ist ja auch egal. Muss ich meine Ringe abmachen?“
„Ach ja, stimmt ja.“ Cornelia blickte auf ihre schon bemehlten Hände, an deren Fingern zwei Ringe steckten. Am Handgelenk trug sie einen Satz dünner, silberner, klimpernder Armreifen, die sie nun abstreifte. Sie waren Nicole sofort aufgefallen und jetzt griff sie danach und fragte ihre Freundin: „Darf ich die mal anprobieren?“
„Klar.“, antwortete Cornelia großzügig. „Aber vorm Backen musst du sie wieder abnehmen.“
Als die Plätzchen fertig gebacken waren – und sie waren tatsächlich gelungen – sah die Küche aus wie ein Schlachtfeld. Die Mädchen räumten auf, so gut sie es eben konnten, den Rest überließen sie Cornelias Mutter. Sie nahmen Saft und Kekse mit ins Kinderzimmer, zelebrierten eine kurze Mahlzeit und spielten „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Kein noch so unbedeutendes Detail entging Nicoles Blick, darum war sie in diesem Spiel immer erfolgreicher als Cornelia.
„Du hast aber schönes Briefpapier.“, stellte sie plötzlich fest.
„Ja“, pflichtete Cornelia ihr bei und strich zufrieden über den naturweißen Block mit dem überzeichneten, romantischen Kleinmädchenmotiv einer schaukelnden Schönheit im Rüschenkleid. „Das ist von Sarah Kay.“
Auch diese Information speicherte Nicole umgehend auf ihrer Festplatte. Nirgends war die Umgebung so anregungsreich, die Spiele so besonders und die schönen Dinge so zahlreich wie in Cornelias Umgebung; sie würde alles tun, um diese Freundschaft aufrecht zu erhalten.
Am Sonntagmorgen um 11.15 Uhr läuteten die Glocken der Kapelle Nordhemmern zum Kindergottesdienst. Das taten sie nur alle zwei Wochen, denn die Dörfer Nordhemmern und Holzhausen II mit je einer eigenen Predigtstätte teilten sich einen Pfarrer. Darum – und weil außer der Kirche und dem Sportverein kaum jemand etwas für Kinder anbot – war der Kindergottesdienst meistens gut besucht. Cornelia, Iris, Birgit und Angela saßen schon nebeneinander, als sie sich neugierig zur quietschenden Eingangstür umblickten: Nicole betrat die Kapelle in einem dunkelblauen Wollmantel, unter dem es verdächtig glitzerte. Cornelia hielt den Atem an: Sie trug genau den gleichen Glitzer-Rolli, den Cornelia vor wenigen Tagen bekommen hatte. Als Nicole sich neben Angela setzte, fragte die: „Hast du dein Klingelbeutelgeld fallen lassen?“
„Nee, wieso?“
„Was klimpert denn da so?“
„Ach so.“, antwortete Nicole überlegen. „Das sind meine Armreifen.“ Sie zog den Ärmel etwas hoch und schüttelte ihren Unterarm, so dass die Schmuckstücke zum Vorschein kamen: Sechs silbern blinkende, zarte Armreifen.
Am Nachmittag lud Cornelia sich zu einem Spontanbesuch bei Petra ein. Als Cornelia geklingelt hatte, dauerte es nur eine Minute, bis Petra Kuchen kauend in der Tür stand. „Hey Conni, komm rein!“, sagte sie. „Wir trinken gerade Kaffee.“
„Oh, dann komm ich später noch mal wieder.“, antwortete Cornelia verlegen und wandte sich zum Gehen.
„Ach Quatsch!“, wies Petra sie brüsk zurecht und rief über die Schulter: „Mama, Conni is' da.“
„Schön!“, rief die Mutter. „bring rasch ein Gedeck aus der Küche mit.“
„Ich kann doch auch in deinem Zimmer auf dich warten.“, flüsterte Cornelia.
„Stell dich nicht so an und komm rein!“, sagte Petra barsch. Und weil dieser Ton keinen Widerspruch duldete, folgte Cornelia der Aufforderung, hing ihre Jacke an die Garderobe und gesellte sich zur Giesekingschen Kaffeetafel. Für das Einzelkind Cornelia war dies immer ein Augenblick, der sie in tiefste Verlegenheit stürzte, doch sie stand das Kuchenritual, bei dem sich die Aufmerksamkeit der gesamten Familie auf den Gast konzentrierte, tapfer durch und verschwand dann mit Petra in deren Kinderzimmer.
„Ich muss dir unbedingt was erzählen.“, sagte Cornelia aufgeregt. „Heute Morgen kam Nicole zu spät zum Kindergottesdienst und rate mal, was sie anhatte?“
„Keine Ahnung.“
„Genau den gleichen Rolli, den Mama mir letzte Woche gekauft hat.“
„Na und? Ist doch nicht schlimm.“
„Doch, ist es wohl! Die war vorgestern bei mir und da hing der Pulli in meinem Zimmer und Nicole fand den schön und meinte, ich soll den mal anziehen und dann wollte sie auch noch wissen, wo wir den gekauft haben. Da muss die ja schon gleich gestern Morgen mit Tante Annegret nach Minden gefahren sein, damit die ihr genau den gleichen Pulli kauft. Du, die ist garantiert mit Absicht zu spät in die Kirche gekommen, damit alle ihren neuen Rolli sehen, sie hatte extra ihren Mantel aufgelassen, und dann hat sie auch noch so dämlich gegrinst.“
„Das tut sie doch immer.“, bemerkte Petra trocken.
„Stimmt!“, pflichtete Cornelia ihr bei und kicherte. Dann fuhr sie fort: „Und dann hat sie sich auch noch die gleichen Armreifen gekauft wie ich und hat solange damit rumgeklimpert, bis Angela gefragt hat, ob sie den Klingelbeutel fallen lassen hat. Da konnte sie dann natürlich damit angeben. Aber weißt du, was mich am meisten aufregt: Ich hatte den Rolli zuerst, aber bis jetzt noch nicht angezogen, und jetzt denken alle, ich hätte das Nicole nachgemacht. Dabei steht der ihr überhaupt nicht, die doofe Ziege.“
„Ich würd' mich ja schämen.“, sagte Petra, wollte aber nicht weiter auf das Fashion-Drama eingehen und schlug vor, eine Runde Mau-Mau zu spielen.
Am Montagmorgen gab Herr Kowalski die Mathearbeit zurück. Petra hatte wie immer eine Eins, es gab viele Zweien und Dreien, aber Iris hatte die erste Fünf ihres Lebens, sie war vollkommen niedergeschmettert. Eine Weltuntergangsstimmung breitete sich in ihr aus, die diffuse Angst vor einem unaufhaltsamen, kontinuierlichen Abstieg, dessen Startpunkt diese Fünf darstellte. Ihre Furcht relativierte sich auch nicht, als Nicole, die ebenfalls zu den besonders guten Schülerinnen zählte, in der Deutschstunde beim Vorlesen patzte und stammelte. In der großen Pause saß ihr der Schock immer noch in den Knochen, und sie schlich so deprimiert über den Schulhof, dass ihr alle aus dem Weg gingen. Als sie schließlich an die Turnstange wollte, um sich ein bisschen zu bewegen, drängelten andere Kinder sich jedes Mal vor, und sie hatte nicht die Kraft, sich durchzusetzen. Tränen schossen ihr in die Augen und als Imke fragte: „Was hast du?“, begann sie heftig zu schluchzen und war außerstande, zu sprechen. Gleich mehrere Mädchen umringten und trösteten sie, aber Schmerz und Angst ließen sich nicht vertreiben.
Am Nachmittag war Nicole bei Angela zu Besuch. Die Mädchen bauten aus Alltagsgegenständen ein futuristisches Domizil für ihre Barbiepuppen.
„Iris hatte ja heute ganz doll geweint in der Pause.“, erklärte Nicole, Betroffenheit heuchelnd.
„Warum eigentlich?“, fragte Angela.
„Sie hat eine Fünf in Mathe geschrieben.“, verkündete Nicole mit großen, runden Augen.
„Kriegt sie jetzt Haue?“, fragte Angela betroffen.
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