Nicole schob die tiefgekühlten Windbeutel in die vorgeheizte Backröhre und erinnerte sich, wie gern Petra als Kind Windbeutel gegessen hatte, aber die ganz großen, die es bei Hüttemanns zu kaufen gab und wo man beim Reinbeißen einen ausgerenkten Kiefer riskierte und die Sahne rechts und links heraus quoll und herunter kleckerte. Da waren die süßen kleinen Tiefkühlbällchen doch weitaus ästhetischer und kultivierter. Mit Petra war Nicole bis heute nicht recht warm geworden. Als Kinder waren sie so gut wie nie zu zweit verabredet gewesen, als Jugendliche hatte Petra sie oft mit Geringschätzung behandelt, und als sie wegzog, hatten sie sich aus den Augen verloren. Trotzdem mochte sie die ehemalige Mitschülerin, die nie ein Blatt vor den Mund nahm und kein bisschen eingebildet war. Darüber hinaus fühlte Nicole sich in ihrer Gegenwart überlegen: Sie hatte Familie, Petra war allein geblieben, sie war schlank und einigermaßen trainiert, Petra war wieder so unförmig wie in ihrer Kindheit, sie hatte Freude an ihrem Beruf, Petra war arbeitslos.
Sie füllte ein Tablett mit Geschirr und trug es auf die Terrasse. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, wie sie an einem lauen Sommerabend mit Angela diese leckere Bowle aus O-Saft, Sekt, Vanilleeis und Wodka gemixt hatte und sie sich auf der Terrasse damit betrunken und gefachsimpelt hatten, welche Jungen in ihrer Jahrgangsstufe attraktiv, welche akzeptabel und welche zu vernachlässigen waren. Es war ein lustiger Abend gewesen, obwohl Angela sonst eher langweilig war und sie regelrecht unterforderte. Aber sie war immer mit allem einverstanden, man hatte keinen Ärger mit ihr und wurde auch nicht hintergangen. Außerdem war Angela nicht aus Nordhemmern heraus gekommen, darum hatte sie zu ihr den regelmäßigsten Kontakt.
Beim Gedanken an Iris überkamen sie gemischte Gefühle. Mit ihren oft zynischen Bemerkungen verbreitete sie schnell schlechte Laune. Sie hielt sich offensichtlich für etwas Besseres, dabei hatte sie es auch nur zur schlecht bezahlten Museumspädagogin gebracht und war auch nicht weiter als bis Melle gekommen. Sie gebärdete sich als extravagant und war doch nichts als Durchschnitt. Damals in der Oberstufe hatte sie immer wieder, wenn auch erfolglos, versucht, Cornelia gegen Nicole aufzubringen, hatte hinter Nicoles Rücken über sie gelästert, dabei aber immer scheißfreundlich getan und jede Party mitgenommen, zu der Nicole sie eingeladen hatte. Andererseits war es Nicole eine Herzensangelegenheit, Iris heute zu empfangen, um ihr zu zeigen, dass sie es geschafft hatte, sowohl beruflich als auch privat, dass sie ihr im Hinblick auf kulturelle Bildung in nichts nachstand, dass sie den weitaus besseren Draht zu der interessanten Cornelia hatte und vor allem, um hoffentlich zu entdecken, dass Iris schon schneller gealtert und degeneriert war als sie selbst. Voller Groll erinnerte sie sich daran, wie Iris sie auf den Friedhof geschleift und genötigt hatte, die ekligen Wildkirschen zu essen, von denen ihr so schlecht geworden war. Auf dem Friedhof spielen, man hatte ja gesehen, wohin so etwas führen konnte. Sören und Nele wären auch besser zu Hause geblieben, statt die Friedhofsruhe zu stören, dann würden sie heute noch leben. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“, dachte Nicole voller Genugtuung. Sie ging in die Küche, um den Kaffee in eine Thermoskanne zu füllen und neuen aufzusetzen, da klingelte es pünktlich um 15.00 Uhr an der Haustür. Aufgeregt eilte Nicole über den Flur und konnte nur mit Mühe ihre Enttäuschung verbergen, als Angela dort stand.
„Komm rein, du bist die Erste.“, flötete sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Angela hatte eine Landfrauen-verdächtige Sahnetorte gezaubert mit verschiedenen Böden und Cremes und mit halben Kiwi-Scheiben garniert.
„Super!“, lobte Nicole sie. „Jetzt haben wir wenigstens eine richtige Torte, wer weiß, was für einen Dinkel-Vollkorn-Beton Iris wieder anschleppt. Und ich hatte einfach keinen Bock zu backen, ich hab' nur Windbeutel aufgetaut, aber die werden ja auch immer gern gegessen.“
„Für fünf Leute wird das wohl gerade so reichen.“, bemerkte Angela schmunzelnd.
„Ja, reichen wird das allemal.“, erwiderte Nicole. „Aber man will ja auch ein bisschen Vielfalt auf der Kaffeetafel haben. Setz dich doch schon mal auf die Terrasse, ich muss nur noch Kaffee und so raus tragen.“
„Ich muss aber noch die Torte schneiden. Hast du 'n Messer und heißes Wasser für mich?“
Die beiden verschwanden in der Küche, und während Angela ihr konditorisches Wunder zerteilte, stellte Nicole alles zusammen, was auf dem Terrassentisch noch fehlte. Der Tisch war gerade perfekt gedeckt, da klingelte es erneut und Nicole, erleichtert, dass sie nicht länger mit der langweiligen Angela allen sein musste, eilte zur Haustür, Diesmal war Petra angekommen und streckte Nicole zwei Flaschen Erdbeersekt entgegen: „Hier, leg die schon mal kalt, damit wir nach Kaffee und Kuchen anständig anstoßen können.“
„Gibt's was Neues?“, fragte Nicole mit gespieltem Wohlwollen.
„Nee.“, antwortete Petra. „Auf die alten Zeiten, dacht' ich.“
„Bestimmt hat sie dieses Zeug in den letzten Jahren ein bisschen zu oft getrunken.“, dachte Nicole. „Es muss ja irgendeinen Grund geben, warum sie sie gefeuert haben.“
Petra hatte es sich gerade in einem der komfortablen Gartenstühle gemütlich gemacht und Angela ein paar höfliche Fragen über ihren Job als Zahntechnikerin gestellt, da tauchte Cornelia wie aus dem Nichts auf. Sie hatte nicht geklingelt, sondern war einfach ums Haus herum gelaufen.
„Hi Conni!“, rief Nicole begeistert. „Du bist die Erste, die sich getraut hat, einfach 'rum zu kommen. Man merkt doch gleich, wer hier früher öfter ein- und ausgegangen ist.“
Cornelia sah sie verständnislos an und ging in keinster Weise auf die Bemerkung ein. Stattdessen sagte sie: „Hallo zusammen!“, dann ging sie als erstes auf Nicole zu. „Hier ein paar besondere Pralinen für die Gastgeberin, und weil ich ja keinen Kuchen backen sollte, hab' ich einfach zur Verdauung 'n Himbeergeist mitgebracht, aus der Privatbrennerei von Uwes Eltern, der ist total lecker.“
Sie begrüßte die anderen beiden und warf dann einen Blick auf Angelas Torte: „Kiwi-Barrakuda-Buttercreme?“, fragte sie in Anspielung auf das Komiker-Duo Wischmeyer und Bulthaup als Frieda und Anneliese und begann, fröhlich zu glucksen.
Etwas verlegen erklärte Angela: „Das Rezept hab' ich aus so 'ner Tortenzeitung, die ich beim Einkaufen eingesteckt hab'. Ich fand die ganz gut und das ist mal was Anderes als immer nur Obstboden, Philadelphia oder Mokkatorte.“
„Na, da bin ich ja mal gespannt.“, sagte Petra und grinste.
„Ein Kuchen steht noch aus.“, sagte Nicole. „Iris fehlt noch, die schafft es auch nie pünktlich.“
„Jetzt hab' dich mal nicht so.“, wies Petra sie zurecht. „Mit Onkel Karl-Heinz, das ist ja noch nicht so lange her, und der hätte gestern Geburtstag gehabt. Ist doch egal, wenn sie 'n bisschen später kommt.“
„Sind die pissgelben Rosen immer noch nicht eingegangen?“, fragte Cornelia mit einem versonnenen Blick ans andere Ende des Gartens. Petra unterdrückte angestrengt einen Lachkrampf, während Nicole und Angela Cornelia verständnislos anstarrten. Als Teenager hatten Cornelia und Petra einmal in einer Nacht- und Nebelaktion Mehl auf die gelben, englischen Teerosen gestäubt, die Annegret Reinkensmeiers ganzer Stolz gewesen waren, um sie glauben zu machen, es handele sich um Mehltau. Die Anderen wussten aber nichts davon. Erst jetzt wurde Cornelia ihr Fauxpas bewusst und sie versuchte krampfhaft, sich wieder heraus zu winden, indem sie das Thema wechselte: „Kommt Iris eigentlich gar nicht?“, fragte sie.
Jetzt brach Petra in schallendes Gelächter aus. „Davon haben wir doch gerade gesprochen. Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?“
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