„Ganz weit weg.“, sagte Cornelia und grinste.
Die erste Runde Kaffee war fast schon kalt, als Iris schließlich genauso um die Ecke bog wie Cornelia. „Tut mir leid, dass ich so spät komme.“, entschuldigte sie sich. „Aber ich musste noch die Beete in Simones Garten gießen und irgendwie hat das viel länger gedauert, als ich erwartet hatte. Dafür ist aber der Kuchen schon fertig geschnitten.“
„Kein Problem.“, sagte Nicole und sprang auf. „Ich hole schnell mal frischen Kaffee.“
„Hast du auch Tee?“, fragte Iris.
Nicole merkte, wie der erste Anflug von Ärger in ihr aufstieg. Das war typisch für Iris: Erst zu spät kommen, obwohl sie einen Kuchen zugesagt hatte und dann gleich irgendwelche Extravaganzen einfordern. „Tee?“, erwiderte Nicole, „muss ich mal gucken, was die da so haben. Was für einen willst du denn?“
„Schwarzen.“
Iris stellte ihre Kuchen auf den Tisch und setzte sich.
„Und?“, fragte Petra, „Bist du hier früher auch häufig ein- und ausgegangen?“
„Wieso?“, fragte Iris irritiert.
„Na, weil du dich getraut hast, direkt in den Garten zu gehen, statt an der Haustür zu klingeln.“
„Ich habe dreimal geklingelt, aber als keiner aufmachte, habe ich im Garten nachgesehen und da seid ihr ja nun.“
„Du musst unbedingt Angelas Kiwi-Torte probieren“, sagte Petra, „die ist superlecker.“
„Auf jeden Fall.“, erwiderte Iris, „aber von meiner Himbeer-Crostata müsst ihr auch alle mindestens ein Stück essen.“
„Ich hab' Himbeergeist mitgebracht!“, triumphierte Cornelia. „Das perfekte Dinner!“
„Klar.“, sagte Petra. „Und Nicoles Windbeutel spülen wir mit eiskaltem Erdbeersekt runter.“
„Erdbeersekt?!“, kreischte Cornelia amüsiert. „Ist das der Freundinnen-Alkopop für Frauen im Klimakterium?“
Als Nicole, die mit einer Jumbotasse schwarzen Tees, in dem noch der Portionsbeutel schwamm, zurückkehrte und die anderen Frauen ausgelassen lachend vorfand, blickte sie unsicher in die Runde.
„Wir diskutieren gerade, welchen Kuchen wir mit welchem Drink 'runterspülen.“, erklärte Iris und nahm den lieblos zubereiteten Tee sich höflich bedankend entgegen. Nachdem sie Angelas Kunstwerk begeistert gekostet hatte, pries sie ihren eigenen Kuchen an. Cornelia war auf Anhieb begeistert und so nahm Nicole trotz anfänglichen Zögerns doch noch ein Stück, bereute ihre Entscheidung dann aber zutiefst. Der Kuchen schmeckte wie er aussah: wie ein drei Stunden im Ranzen herum geschlepptes Himbeermarmeladenbrot.
Als die zweite Flasche Erdbeersekt geöffnet wurde, stellte Iris fest: „Oh, guck mal Nicole, ich glaube, auf deinen Discounter-Windbeuteln bleibst du sitzen. Könnt ihr die zur Not an die Kaninchen verfüttern?“
Niemand lachte, stattdessen herrschte betretenes Schweigen. Geschickt wechselte Cornelia das Thema: „Petra, was gibt’s Neues vom Arbeitsgericht?“
„Nichts. Das kann auch noch dauern. Aber so lange nichts entschieden ist, müssen die mich weiter bezahlen. Ich suche jetzt im Internet und in den Zeitungen, aber mit Initiativ-Bewerbungen halte ich mich noch zurück, da haben die vom Jobcenter mir von abgeraten.“
„Warum haben die dir überhaupt gekündigt?“, fragte Nicole spitz.
Petra sah betreten zu Boden und antwortete leise: „Ich bin denen zu dick.“
„Aber das haben die doch wohl so nicht gesagt?“, fragte Cornelia entrüstet.
„Doch.“, antwortete Petra. „Das haben die ganz genau so gesagt.“
„Na wenigstens bist du flexibel und kannst da hinziehen, wo dir ein Job angeboten wird.“, stellte Nicole fest. „Wenn du Familie hättest, wäre das nicht so einfach.“
Ohne Familie ist das auch nicht einfach.“, widersprach Iris. „Man muss alles allein organisieren, man hat kein zweites Gehalt, mit dem man den Verdienstausfall kompensieren kann und man wird genauso aus seiner gewohnten Umgebung mit guten Freunden und bewährten Freizeitmöglichkeiten heraus gerissen wie eine Familie, nur dass man dann niemanden dabei hat, der die veränderte Situation mit einem teilt.“
„Aber man muss nicht den Schulwechsel der Kinder organisieren und die auch noch trösten, weil die nicht umziehen wollen.“, verteidigte Nicole ihre Sicht.
„Das sind doch alles ungelegte Eier.“, beendete Petra die Diskussion. „Conni, erzähl doch mal, was du gerade für 'ne Rolle spielst.“
Cornelia wirkte überrumpelt. „Was willst du denn jetzt damit sagen?“, fragte sie.
„Na, du stehst doch sicher sechs Mal die Woche auf der Bühne und bestimmt nicht als Stehlampe.“
„Ach so. Ich dachte, du meinst, was für 'ne Rolle ich hier jetzt gerade spiele und dachte schon, was wird das denn für 'ne Psycho-Nummer? Also zurzeit bin ich Beatrice in 'Viel Lärm um nichts'.“
„Und die Sprechstundenhilfe?“, fragte Nicole.
„Welche Sprechstundenhilfe?“
„Na, als ich das letzte Mal bei dir in Berlin war, da hattest du doch vor, eine Sprechstundenhilfe zu spielen, da sollte ich dich doch beraten.“
„Ach so, das. Nee, daraus ist nichts geworden.“
„Schwester Conni unterweist Lady Macbeth in Händedesinfektion oder was für eine Nummer wäre das gewesen?“, scherzte Iris.
„Nein, nein.“, erklärte Cornelia. „Da hab' ich mich mal für ein Boulevard-Stück beworben, weil ich ein bisschen mehr Geld verdienen wollte. Hat aber nicht geklappt.“
„Und für so etwas hättest du deine coole Truppe aufgegeben, nur für den schnöden Mammon?“
„Nein, ich wollte das zusätzlich machen.“
„Und Leander?“
„Der war da doch schon vierzehn, und Uwe ist ja auch noch da.“
„Hat der Uwe nicht auch ein Kind?“, fragte Angela interessiert.
„Zwei.“, antwortete Cornelia. „Noah ist fünfzehn und lebt bei uns und Malù ist zwölf und lebt bei ihrer Mutter, kommt uns aber jedes zweite Wochenende besuchen. Wenn es gut läuft, sind seine Kinder am gleichen Wochenende bei seiner Frau, an dem Leander auch bei Antoine ist. Das klappt aber nicht immer.“
„Ich glaube, das wäre mir emotional alles zu anstrengend.“, erklärte Iris und verursachte damit zum zweiten Mal eine peinliche Stille.
„Ach ja.“, sagte Petra. „Wer hätte gedacht, dass die PANIC-Girls einmal so enden? Bei Kaffee, Sahnetorte und Erdbeersekt auf Reinkensmeiers Terrasse?“
„Ja genau“, seufzte Iris, „planlos, orientierungslos, arbeitslos, kinderlos und hirnlos.“
„Sollen wir jetzt raten wer wer ist?“, fragte Cornelia.
„Nee, war nur Spaß.“
„Oder meinst du, das trifft alles auf mich zu?“, fragte Petra.
„Ach Blödsinn!“, sagte Iris. „Ich hab' nur rausgeblasen, was mir gerade durch den Kopf schoss, zwei Sekt zu viel. Leg das nicht auf die Goldwaage. Früher wart ihr doch auch nicht so empfindlich, da habt ihr euch immer aufgeregt, weil Angela so leicht los geheult hat. Wisst ihr noch, wie wir 1978 auf Connis Geburtstag die PANIC-Girls gegründet haben?“
„Ach ja“, seufzte Cornelia, „unser erstes Jahr am Gymnasium. Das waren noch Zeiten.“
Cornelia war unheimlich aufgeregt. .Sie trug ihren nagelneuen Latz-Rock aus dunkelbraunem Fein-Kord und die ungewohnte Kleidung verstärkte ihre Anspannung. Gleich musste sie „Alle Jahre wieder“ auf dem Klavier vorspielen vor einem großen Publikum, denn Eltern und Großeltern aller aktuellen Musikschüler waren zum Weihnachtskonzert im Festsaal des Hiller Volkening-Hauses erschienen. Eigentlich war das Lied einfach zu spielen, aber kurz vor Schluss gab es eine vertrackte Stelle, bei der sie immer wieder patzte. Nicole war auch dabei und trat mit „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ auf. Sie trug ein dunkelblaues Samtkleid und sah mit den dazu passenden Lackschuhen sehr elegant aus. Iris spielte „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Ihre Kombi aus einem grau-rot karierten Faltenrock und einer weinroten Winterbluse war annehmbar, aber nicht wirklich schön. Die beiden Klassenkameradinnen waren aber mindestens genauso aus dem Häuschen wie Cornelia, wobei Nicole aufgeregt herum plapperte, während Iris in konzentriertem Schweigen versank. Auf den Tischen standen leckere Plätzchen und Süßigkeiten, aber keines der Mädchen hatte auch nur einen Hauch von Appetit. Zum Glück würden sie gleich nach den Blockflöten dran kommen, danach konnten sie sich nach Herzenslust mit Kakao voll kübeln und Kekse knabbern.
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