Hastig löffelt er, giert die Suppe in sich hinein. Mit jeder Armbewegung steigt eine wohlige Wärme im Körper auf. „Lege dich dort auf die Pritsche und schlafe dich erstmal aus. Versuche, den Kopf frei zu kriegen, wenigstens so gut es geht. Hier bist du sicher.“ Die weiteren Ratschläge hört Fritz schon nicht mehr. Er fällt in einen tiefen Schlaf, der Körper hat sich seiner Anstrengung entledigt.
„Du Deutscher. Du zugesehen, wie unsere Leute gehängt wurden. Du auch Mörder. Du jetzt sterben!“, schreit der Russe ihn an, reißt seine Kalaschnikow in die Höhe, richtet den Lauf auf ihn und drückt ab. Salve um Salve durchlöchert seine Brust. Er spürt die Schmerzen und kann doch nicht zusammenbrechen. „Du zu feige, um zu sterben. Dein Freund war mutiger. Du Feigling!“, begleitet der Rotarmist seine Kugelfolge. Dann ist das Magazin leer. Sein blutiger Körper ist Fritz nicht im Bewusstsein. Aber der Schweiß auf seiner Stirn! Jetzt kann er auch zusammensinken, sieht im Fallen noch das verächtlich grinsende Gesicht des Schützen. Und hinter ihm steht plötzlich Alma! Mein Gott, wie peinlich, sie sieht ihn schweißgebadet am Boden liegen. Er muss sich aufrichten. Sie kommt ihm zuvor, beugt sich über ihn und wischt ihm mit der bloßen Hand den Schweiß ab. Die Berührung macht ihn wach. Fritz erblickt das freundliche Gesicht Elsbets, die ihm mit einem Tuch über die Stirn tupft: „Ganz ruhig! Sie haben nur geträumt.“
Wie viel Zeit er nun schon in diesem Bodenloch verbrachte, kann er nicht mehr ergründen. Seine Gastgeber hielten es für sicherer, dass er sich vorerst nicht an der Oberfläche blicken ließ, kümmerten sich aber rührend. War er so eine Art „Sohn-Ersatz“? Morgens brachten sie einen Eimer mit Waschwasser, gaben ihm zu Essen und zu trinken und unterhielten sich mit ihm. Besonders der Alte gab sich sichtlich Mühe, ihm das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Nun wusste er auch, dass der Alte Arthur mit Vornamen hieß, kannte seine komplette Lebensgeschichte und registrierte, dass auch Elsbet ihre distanzierte Haltung ihm gegenüber allmählich abbaute.
Arthur kommt erregt die Stiege hinunter. Noch im Gehen ruft er quasi schon von oben hinunter: „Der Führer ist tot. Er ist, bis zum letzten Blutstropfen kämpfend, gefallen. Hat soeben die „Goebbels- schnauze“ verkündet.“ Fritz sieht die Beiden entgeistert an: „Und nun?“ „Nun, was …“, antwortet Arthur und fügt seiner Bemerkung seine Lieblingsbeschäftigung hinterher – verächtlich spuckt er auf den Boden: „Und nun? Nun kommen die Russen!“ Und so trotzig, wie es ihm nur möglich ist, fügt er hinzu: „Was für ein Segen!“ „Vielleicht wird es ja wirklich besser. Hauptsache, der Krieg geht zu Ende. Vielleicht sind die Russen ja gar nicht so schlimm, wie man so hört.“ Arthur feixt ihn provozierend an: „Glaubst du das wirklich? Ich werde dir mal was erzählen. Kurz bevor unser Sohn bei Stalingrad gefallen ist, hatte er noch zwei Tage Heimaturlaub. Er hat uns berichtet, was nicht erzählt werden durfte, was jeder Soldat verschwieg, was Wehrmacht und Waffen-SS an der Ostfront angerichtet haben. Häuser haben die abgefackelt, ganze Dörfer. Häuser mit Menschen drin! Und wer rausrannte, sich in Sicherheit bringen wollte, den erwartete eine Gewehrsalve. Männer mussten sich ihre eigenen Gräber schaufeln. Wenn sie dann erschossen wurden, ging es wenigstens noch schnell. Kinder und Säuglinge haben sie lebendig begraben! Die Frauen, die dabei zusehen mussten, haben sie vergewaltigt und anschließend an die Holztüren ihrer Häuser genagelt.“ Fritz merkt, wie es ihm die Kehle zuschnürt. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein. Doch der Alte fährt fort: „So, und nun sage mir, wenn du ein Russe wärst, es deine Angehörigen beträfe, sage mir, was würdest du jetzt tun? Würdest du Unterschiede machen? Guter Deutscher, schlechter Deutscher?“ Noch bevor Fritz antworten kann, beantwortet Arthur seine rhetorische Frage selbst: „Nein, das würdest du nicht! Du würdest alle Deutschen hassen! Und das ist letztendlich auch normal. Rache, Vergeltung, Sühne! Ja, genau das würdest du denken, Gleiches mit Gleichem vergelten! Ich denke, wir werden unser blaues Wunder erleben, alle, ausnahmslos!“ Der Alte hatte sich in Rage geredet, nun hielt er inne. Dieses Schweigen wirkte auf seltsame Weise noch bedrückender als sein Wortschwall von eben. Im selben Moment dachte Fritz an seine Mutter und an Alma. Was werden diese Bolschewiken ihnen antun? Er muss zu ihnen, sie beschützen, solange es geht. Als er seinen spontanen Plan in Worte fasst, blickt Arthur ihn kritisch an: „Du willst sie beschützen? Vor den Russen? Allein? Darf ich dich daran erinnern, dass du vor wenigen Tagen noch Deutschland beschützen wolltest und dir dann doch vor Angst in die Hose geschissen hast? Vergiss es! Bleib lieber hier unten!“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Einstiegsluke: „Bleib hier! Wenigstens so lange, bis klar ist, wer da oben das Sagen hat.“
Ja, der Alte hatte Recht. Logik war gefragt, anstatt sich seinen Emotionen hinzugeben. Doch gerade diese Sehnsucht war es, die ihn quälte, die seinen Wunsch verstärkte, endlich seine Angehörigen wiederzusehen, Alma in die Arme zu schließen. Und dieses Verlangen wuchs mit jedem Tag, jeder Minute und Sekunde. Etwas über eine Woche sollte vergehen, bevor das deutsche Volk weiße Fahnen, als Zeichen der Aufgabe, aus den Fenstern ihrer Häuser hängten. Zehn lange Tage, bis Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall einer vernichtend geschlagenen, nur noch auf dem Papier existierenden deutschen Armee, in Berlin-Karlshorst, eine Urkunde unterschrieb. Diese kurz nach Mitternacht gegebene Signatur beendete offiziell die Kampfhandlungen rückwirkend zum 08. Mai 1945 - 23.01 Uhr. Dabei handelte es sich um eine formale Wiederholung des Prozederes, da die eigentliche bedingungslose Kapitulation bereits zwei Tage vorher im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditions- streitkräfte in Reims besiegelt wurde. Dennoch bestanden die Befehlshaber der 5. Russischen Armee darauf, dieses Bekenntnis in ihrer Hauptkommandantur zu erneuern. Ausgerechnet in der ehemaligen Heeresspionierschule des Deutschen Reiches sollte alles stattfinden. Es ist Mittwoch, der 9. Mai 1945, exakt 0.16 Uhr, als Keitel als oberster Befehlshaber OKW und des Heeres mit Generaladmiral von Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Stumpff für die Luftwaffe den Raum betritt. Mit seiner Unterschrift ratifiziert er das offizielle Kriegsende.
Nun gibt es für Fritz kein Halten mehr. Unendlich dankbar, mit dem felsenfesten Versprechen, sich wiederzusehen, umarmt er seine Beschützer. Plötzlich hält er an sich: „Wo ist eigentlich meine Uniform?“ Arthur grinst: „Verbrannt. Ist vielleicht besser, wenn du in diesen Klamotten rumspazierst.“ „Und Heinrichs Zigarettenetui?“ „Keine Sorge, hab alles von Wichtigkeit vorher rausgenommen. Hier, ein kleines Andenken an uns!“ Er überreicht ihm einen kleinen Rucksack, den Elsbet die ganze Zeit umklammert hielt: „Da ist alles drin. Und auch was zum Essen und Trinken. Und nun sieh zu, dass du Land gewinnst! Deine Alma wird bestimmt genauso vor Sehnsucht zerfließen wie du. Aber sei vorsichtig. Ich denke, so klar ist die Lage noch nicht.“ Eine letzte, innige Umarmung besiegelt den Abschied.
Obwohl seine Kräfte wieder am Ende sind, beschleunigt er seine Schritte. Jetzt rechts abbiegen, in die Landhausstraße. Fritz muss schmunzeln. Seine Erinnerung kreist um seine Kindheit. Wenn der Vater mit dem Pferdegespann zum Markt fuhr, quengelte Fritz so lange, bis er mit auf dem Kutschbock sitzen durfte. Da die Landhausstraße aus unregelmäßig großen Feldsteinen bestand, wackelten Vater und Sohn lustig hin und her. Das hatte Spaß gemacht. Und wenn der Vater mal ganz besonders gut gelaunt war, ließ er ihn sogar mal die Zügel halten. Mit der Zunge schnalzend animierte er die Pferde schneller zu laufen. Je größer die Erschütterung, desto größer der Spaß. Leider war an der Rennbahn Schluss. Der kleine, nach Eggersdorf führende Waldsandweg, verdrängte die groben Steine. Dann übernahm der Vater wieder die Zügel. Wenn ganz viel Zeit war, hielten sie noch an der Rennarena, die Pferde bestaunend. Heimlich setzte Papa auf einen der Gäule und Fritz bekam ein Eis, damit er ja der Mutter nichts erzählte. Sonst hätte es wegen dem Wetteinsatz unter Garantie Stress gegeben. Vielleicht noch zehn Meter, dann beginnt der Sandweg, umsäumt von Wald. Keine zwei Kilometer, dann ist er endlich am Ziel. Doch dann hört er einen Schrei - „Стоять!“ Es bedarf keiner Russischkenntnisse, um den Sinn dieses Wortes zu erfassen. Betont langsam dreht sich Fritz um und blickt in die auf ihn gerichteten Gewehrläufe. „Стоять!“, wiederholt der eine der beiden Soldaten.
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