Als er langsam sein Bewusstsein findet, vernimmt er leise die Stimme Zarah Leanders - Davon geht die Welt nicht unter… Die Schmerzen werden weniger, langsam kommt er zur Besinnung. Heinrich! Seine Augen suchen den Freund. Fritz erstarrt, als er ihn entdeckt. Heinis Körper ist mit einer dünnen, rot gefärbten Sandschicht bedeckt, der rechte Arm, dessen Hand krampfhaft das silberne Zigarettenetui fasst, ist abgetrennt. Sein starrer Blick haftet auf dem leblosen Freund. „Heini. Neeiinn!“, schreit er, robbt hinüber und schüttelt immer wieder dessen Oberkörper: „Heini, bitte! Heinrich! Verdammt, Heinrich ...“
Es ist zwecklos. Schließlich ergreift er das Etui, zieht es ihm aus der Hand und lässt es in seiner Innentasche verschwinden. Wie von Sinnen springt er aus dem Graben. Er rennt und rennt, ziellos, nur weg. Weg von der Ebene, fernab der Straßen. Ein Mann rennt ziellos in deutscher Uniform landeinwärts. Das war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Erneut flammt die Angst in ihm auf. Hinein in den Wald. Zweige schlagen ihm ins Gesicht, die Füße rutschen, er registriert es nicht, bis er schließlich zusammenbricht. Durst! Die Feldflasche ist leer. Jetzt erst bemerkt er, dass sein Gesicht blutverschmiert ist. Die Folgen der Schlacht? Oder waren es Mitbringsel seiner Flucht, die peitschenden Äste, die sich ihm in den Weg stellten …? Egal. Es muss weiter gehen. Durst! Das Moos ist feucht. Und wenn er es mit der Hand ausquetscht …? Er versucht es. Schließlich steckt er das Waldgrün in den Mund, kaut darauf herum. Angewidert vom leicht bitteren, aber sehr sandigen Geschmack spuckt er es wieder aus, muss sich fast übergeben. In zwei Tagen hat er Geburtstag. Nur ein kleiner Schluck Wasser, das wäre jetzt das schönste Geschenk. Aus der Ferne dringt noch immer der Geschützlärm an sein Ohr. Ist da etwa ein weiteres Geräusch oder bildete er sich das nur ein? Jetzt mischt sich auch noch ein weiteres Gedröhne ins Gehör, es wird lauter und lauter, nähert sich schnell. Instinktiv wirft er sich auf den Boden, sucht Schutz hinter einem Baumstapel. Keine Sekunde zu früh. Das Gedröhn wird klarer, erweist sich als Motorengeräusch. Schließlich sieht er sie, wie sie auf der kleinen Lichtung anfahren. Vorneweg ein Motorradgespann, gefolgt von einem VW Typ 87. Da war er also, Vaters Volkswagen. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatte er begonnen, auf das Konto der Kraft durch Freude Organisation einzuzahlen. Wollte das Ansparen der Neunhundert Reichsmark erreichen, die für solch ein Auto aufgerufen wurden. Volkswagen hatte der Führer ihn benannt, erschwinglich für jedermann, schick und modern. Dann aber wurde die Herstellung auf Eis gelegt, nur noch für die Wehrmacht produziert. Das angesparte Geld wurde natürlich einbehalten, denn nach dem Endsieg soll die Produktion ja weitergehen. Nach dem Endsieg? Wer glaubte noch wirklich daran? Das Angesparte war weg! Vater dürfte es ohnehin egal sein, er war vor zwei Jahren bei Stalingrad gefallen.
Noch tiefer drückt er sein Gesicht ins Moos. Wenn man ihn jetzt erwischt, dann war es das. Dann müsste Mutter ganz ohne männliche Hilfe auskommen. Und Alma …? Wehmut und Sehnsucht krochen in ihm hoch. Für Gefühle war jetzt aber wenig Spielraum. Dem VW folgt ein Lastkraftwagen der Marke Opel Blitz . Den Abschluss dieser Kolonne bilden zwei Motor- radgespanne. Fritz drückt sich fester an den Holzhaufen. Sein Körper bebt, unaufhörlich wird Adrenalin durch diesen gepumpt. Da ist sie wieder, seine ständige Begleiterin, die Angst. Der Pulk hält, keine dreißig Meter trennen ihn von den Fahrzeugen. Flucht? Unmöglich! Die Fahrer der Motorradgespanne springen von ihren Krädern. Kettenhunde! Erkennbar an ihren großen Schildern, die mit einer Kette um ihren Hals geschlungen sind. Kettenhunde, die Militärpolizei der Wehrmacht, speziell ausgebildet für die Suche nach Deserteuren. Waren sie vielleicht sogar seinetwegen gekommen? Hatte man seine Flucht bemerkt? Suchten sie bereits nach ihm? Nun wurde die hintere Tür des VW aufgerissen und zum Vorschein kommt ein blonder Hüne, der sich nach allen Seiten umsieht. Nachdem er die Waldluft tief inhaliert hat, zupft er sich seine Uniform zurecht. Ein Hauptsturmführer der SS, wie Fritz an den Rangabzeichen erkennen kann. Kettenhunde und SS? Das passte nicht zusammen. Auf ein Handzeichen des Oberbefehlshabers dieses Haufens springen die hinteren Kradfahrer von ihren Fahrzeugen und reißen die Maschinengewehre in die Richtung des LKWs. Die Ladebordwand wird geöffnet. Vier Soldaten der Totenkopfverbände springen ins Freie. Bevor abermals vier Soldaten der Eliteeinheit den Lastkraftwagen verlassen, sieht Fritz, wie fünf Männer vom Inneren nach Draußen gedrängt werden. Drei Russen und zwei Männer in Zivilkleidung, allesamt an Händen und Füßen gefesselt. Sofort werden die Rotarmisten aufgerichtet und an den Schneisenrand der Lichtung gestellt. „Feuer!“, brüllt der Führer. Eine ohrenbetäubende Salve aus den Maschinengewehren lässt die Russen blutüberströmt auf den Waldboden sinken, während der Offizier aufreizend langsam auf die beiden Zivilisten zugeht und sich vor den traurigen Gestalten aufbaut. „So, nun zu euch Beiden. Für Feiglinge ist jede Kugel zu schade!“ Wieder gibt er ein Handzeichen, worauf zwei der Kettenhunde jeweils ein Seil mit Schlinge ergreifen und sicheren Schrittes direkt auf Fritz zugehen. Ihm stockt der Atem, kalter Angstschweiß rinnt aus allen Hautporen. Keine zehn Meter vor ihm bleiben die Militärpolizisten stehen, werfen die Seilenden über die untersten Äste zweier Kiefern, ziehen die Seile fest und verknoten sie. Dann stellen sie zwei Holzschemel darunter und signalisieren, dass alles vorbereitet sei. Sofort ergreifen jeweils zwei der SS-Schergen einen der Delinquenten und zerren sie über den Waldboden in Richtung Galgen. Während der anscheinend Ältere von beiden sich willenlos seinem Schicksal ergibt, versucht der Jüngere sich vehement zu wehren, um noch wenigstens einige Sekunden für sein schwindendes Leben heraus- zuschinden. Heftig zerrt er hin und her, setzt seine Füße als Gegengewichte ein. Sein Schreien und Flehen machen allerdings wenig Eindruck auf die Umstehenden. Die Angehörigen der Schutzstaffel haben viel gesehen und viel durchgesetzt. Ohne weitere Verzögerung werden beide auf die Hocker gestellt, die Schlinge um den Kopf gelegt, festgezurrt. Mit einem Fußtritt wird die Erhöhung beendet. Für eine gefühlte Ewigkeit zappeln die Gehenkten, bis schließlich ihre Körper erschlaffen. Unter dem Gelächter seiner Untergebenen deutet der Hauptsturmführer auf den jüngeren der Baumelnden, dessen Körper im Todeskampf Darm und Blase entleert hat: „Eingepisst! Sogar im Jenseits ist der noch ein Feigling.“ Unter dem Jubel des grölenden Mobs knöpft er seine Uniformhose auf und fängt an auf die Füße des Toten zu urinieren: „Pisse zu Pisse! Staub zu Staub. Amen.“ Fritz kann ihm nun genau in die Augen sehen. Tote Augen, furchtbar kalte Augen! Er wird sie nie vergessen.
Sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Angetrieben von der ungezügelten Produktion des Adrenalins schaltet sein Verstand mehr und mehr ab. Die für die Koordination zuständigen Hirnströme geraten aus den Fugen, sinnvolle wechseln mit sinnlosen Reizen an das zentrale Nervensystem ab. Die Botenstoffe entwickeln ein Eigenleben. Ruckartig reißt er sein Maschinengewehr hoch. Mit einem ultimativen Wutschrei richtet er das Mordwerkzeug blindlings in Richtung der Lachenden. Salve um Salve marodieren durch den Wald, bis schließlich das gesamte Magazin, jede einzelne Patrone, verbraucht ist. Nur ganz langsam kommt er zur Besinnung. Während die Wachmannschaft regungslos auf dem Waldboden liegt, sieht Fritz, wie der Hauptsturmführer in den VW springt und mit laut aufheulendem Motor davonrast. Hastig zielt er auf den Wagen, drückt den Abzug. Jetzt bemerkt er, dass die Waffe leergeschossen ist. Wütend schmeißt er das Gewehr zu Boden: „Scheiße! Verfluchte Scheiße!“ Vorsichtig nähert er sich dem Tatort, vergewissert sich, dass keiner der Soldaten noch am Leben ist. Ein flüchtiger Gedanke geht ihm durch den Kopf. Hätte er schon vorher geschossen, würden die Beiden noch leben. Nein, wahrscheinlich würden drei Bemitleidenswürdige an diesem Baum hängen!
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