Ohne Sondersignal und im eher gemächlichen Tempo nähert sich der Streifenwagen seinem Ziel. Hektik ist nicht angesagt. Schließlich feiert man nicht allzu weit entfernt das Halloween-Fest. Da hat bestimmt bei einem der Besucher der Flaschengeist zugeschlagen. Und wenn dieser Bürger nicht sturzbetrunken ist, handelt es sich vielleicht um einen Tierkadaver. Ist ja schon öfter vorgekommen. Ja, selbst wenn es sich so wie gemeldet, herausstellen sollte, dass es sich tatsächlich um menschliche Überreste handelt, dann gilt immer noch: Tote können nicht flüchten und ein „Knochenkarl“ erst recht nicht. Schon von der Petershagener Chaussee aus halten die Beamten Ausschau, können aber niemanden entdecken. Die Theorie vom Flaschengeist erhärtet sich. „Lass uns auf Nummer sicher gehen. Biege mal rechts in den Feldweg.“ Die Schlaglöcher schütteln die Beiden tüchtig durch. Dieser Auftrag hebt die Laune nicht gerade. Noch immer ist nichts zu sehen. Gerade haben sie beschlossen umzukehren, mit der Gewissheit, dass man ja die Telefonnummer des Scherzboldes habe und nun gerichtliche Konsequenzen folgen. Plötzlich taucht im weitschweifigen Lichtkegel der Scheinwerfer eine wild gestikulierende Gestalt auf. „Da vorn!“ Kurz darauf stapfen die Gesetzeshüter durch den aufgeweichten Feldboden. „Hier. Hier bin ich!“, ruft Schmidt ihnen aufgeregt entgegen. Der Polizist leuchtet mit seiner Taschenlampe in die Richtung des Rufers. „Ach du Scheiße!“, kommentiert er das Gesehene. „Das hier ist unverkennbar ein menschliches Skelett, fast vollständig, wenn man mal von einem Stück des Oberschenkels absieht.“ Dieser ist noch immer den neugierigen Hundeblicken ausgesetzt. Im selben Augenblick scheint Ballou zu begreifen, dass er seinen Fund nun vollends abschreiben kann. Diese Menschen! Einer dieser Zweibeiner wird jetzt aktiv. Ein Beamter greift zum Funkgerät und informiert die Zentrale, die wiederum die hierfür übliche Maschinerie in Gang setzt. Eine Routine setzt ein, die sich in Fällen wie diesem immer an bestimmte Handlungen hält. Zuerst wird der in Bereitschaft stehende Staatsanwalt informiert, der dann die Mitarbeiter der Kriminal- polizei, die Spurensicherung sowie einen Arzt der Rechtsmedizin beordert. Etwa eine Stunde später nach dem Eintreffen der Beamten ist es mit der Ruhe vorbei. Fahle Abstrahlung des Mondes vermischt sich mit dem grellen Lichtkegel der Scheinwerfer. Das rotweiße Plastikband mit der Aufschrift: „Polizeiabsperrung“ flattert im lauen Herbstwind hin und her. Kleine gelbe Schildchen, mit fortlaufenden schwarzen Ziffern versehen, sind in das Feld gesteckt, dienen dem Fotografen als Orientierung für seine Motive. Zwei Männer, die mit weißen Schutzanzügen und dazugehöriger Atemschutzmaske bekleidet sind, kauern um das Corpus Delicti. Die wie aus der Seuchen- abteilung einer Universitätsklinik Entsprungenen befreien mit weichen Pinseln die Knochen vom Sand. „Na, schon eine kleine Einschätzung?“, wendet sich der Staatsanwalt an den ebenfalls bei dem Leichnam hockenden, leicht untersetzten Mann. Mit seiner Nickelbrille, die von einem schmalen um seinen Hals gewundenen Textilband gehalten wird, wirkt er fast wie der Coroner aus einer amerikanischen Krimiserie. „Sehr vage …“, antwortet der Mediziner zögerlich. „Männlich, zirka eins achtzig groß. Mehr, wenn wir die Überreste im Institut hatten.“ Hauptkommissar Dirk Link wagt einen Vorstoß: „Könnte es sich um die Leiche eines Soldaten aus dem 2. Weltkrieg handeln?“ Diese Frage bringt ihm einen vorwurfsvollen Blick des Staatsanwalts ein: „Lieber Kollege, Spekulationen bringen uns nicht weiter.“ Süffisant grinsend hebt der Arzt erneut an: „Nun, ich denke eher nicht. Schauen Sie!“ Vorsichtig hebt er mit einer Pinzette einen kleinen vermoderten Stofffetzen hoch: „Meistens, wenn wir solche Opfer finden, und das ist ja hier in der Gegend geschichtlich gesehen nicht allzu unwahrscheinlich, fanden wir irgendwelche Indizien. Erkennungsmarken, Patronen oder andere entsprechende Gegenstände sind typische Beigaben bei solchen Funden. Hier aber Fehlanzeige. Und was diesen Fetzen hier betrifft, würde ich spontan sagen, das ist kein Uniformstoff. Weder von deutschen noch von russischen Soldaten. Aber wie schon gesagt, warten Sie die Untersuchung ab. Vermutlich werden Sie aber nicht darum herumkommen, eine Untersuchung des Falls zu starten. Schauen Sie bitte hier!“ Der Rechtsmediziner wendet sich wieder dem Staatsanwalt zu und deutet auf den Schädel des Toten: „Verletzungen. Sieht aus wie Wunden, die von Schlägen herrühren. Aber nochmals, zum jetzigen Zeitpunkt sind das alles Vermutungen.“ „Also gut. Wann, denken Sie, können wir mit Ergebnissen rechnen.“ „Wir bemühen uns. Aber mit zwei bis drei Tagen müssen Sie schon rechnen.“
Der angeforderte graue Transporter mit der Aufschrift: „Gerichtsmedizin“ schaukelt durch den unebenen Feldweg und hält in unmittelbarer Nähe des Fundortes. Das, was einmal ein Mensch war, wird vorsichtig in Tüchern fixiert, in einen mattgrauen Metallsarg verstaut und tritt seine Reise ins Gerichtsmedizinische Institut an. Zurück bleibt ein enttäuschtes, sehnsuchtsvolles Paar Hundeaugen.
„Der Führer wird seinen Weg bis zu Ende gehen, und dort wartet auf ihn nicht der Untergang seines Volkes, sondern ein neuer glücklicher Anfang zu einer Blütezeit des Deutschtums.“ "Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben.
Man kann dieLüge so lange behaupten, wie es dem Staat
gelingt, die Menschen von den politischen, wirtschaftlichen und
militärischen Konsequenzen der Lüge abzuschirmen.
Deshalb ist es von lebenswichtiger Bedeutung für den Staat,
seine gesamte Macht für die Unterdrückung abweichender Meinungen einzusetzen.
Die Wahrheit ist der Todfeind der Lüge,
und daher ist die Wahrheit der größte Feind des Staates."
Joseph Goebbels
20. April 1945 17.00 Uhr
Sanft legt sie ihren Körper über den seinen und küsst ihn. Von ihm unbemerkt rupft sie einen Grashalm aus und streicht mit dem grünen Stängel zart über seine Wangen. „Höre auf, das kitzelt!“, fordert er lachend. Doch Alma denkt nicht daran aufzuhören. Sie klemmt sich den Halm fest zwischen die Lippen, greift seine beiden Arme, drückt sie fest zu Boden, senkt ihren Kopf nieder und kreist, jetzt mit Halm und ihren langen braunen Haaren weiter über seinem Gesicht. „Das kitzelt“, wiederholt er mit Nachdruck. Sie lacht nur: „Pech, mein Lieber. Da musst du durch.“ Er versucht, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien, aber es gelingt ihm nicht. Verdammt, wo hat sie auf einmal so viel Kraft her? „Höre auf, dich zu wehren! Du hast keine Chance, du bist tot!“ Erschrocken reißt Fritz die Augen auf, erblickt über sich gebeugt einen Totenschädel, dessen leere Augenhöhlen ihn gebannt anstarren. Mit aller Gewalt gelingt es ihm, das „knöcherne Etwas“ abzuwehren und seinen Körper aufzurichten. Hastig blickt er sich nach allen Seiten um, doch die „skelettierte“ Alma bleibt verschwunden.
Es dauert einige Momente, bis er begreift, dass ihn sein Traum in die Wirklichkeit zurück katapultiert. Schweißperlen rinnen über sein Gesicht. Er blickt in den Himmel, sieht, wie der laue Wind der Abenddämmerung sacht durch die Tannenkronen schweift. Alles sieht so friedlich aus, selbst das Grollen der Geschütze scheint, verstummt. Wo stand der Deutsche, wo der Russe? Hinter ihm? Oder hatten sie ihn schon überholt? Die letzte Nacht war er durch die Wälder gestreift, immer Richtung Westen, hatte tunlichst sämtliche Straßen und öffentliche Wege gemieden. Gedanken jagen durch seinen Kopf. War es richtig zu desertieren? Was, wenn der Führer recht behielte, der Russe doch im letzten Moment gestoppt, die Wehrmacht doch noch den Endsieg davontragen würde? Das hieße dann ein Leben lang vor den eigenen Leuten fliehen! Umkehrschluss, der Russe gewinnt und er läuft denen in die Arme? Wie würde die Sache ausgehen? Müsste er sich vor der russischen Rache fürchten? Die Propaganda-Maschinerie hatte die Deutschen ja immer vor der Barbarei der Untermenschen gewarnt! Egal, wie rum man es auch betrachtete, Fritz stellte sich immer die Frage, ob es wirklich richtig war, davonzurennen. Hatte er nicht sogar seine Kameraden im Stich gelassen? Aber Heinrich war tot! Heute wäre er neunzehn geworden! Erst jetzt wird ihm die schmerzhafte Bedeutung dieses Tages bewusst. Ja, heute war ja auch sein Geburtstag. Er zumindest hatte die Neunzehn erreicht. „Na dann alles Gute …“, murmelt er vor sich hin. Bin ich mein einziger Gratulant! Was ist mit Geschenken? Ein Schluck Wasser wäre gut. Mein Gott, wie bescheiden man doch werden kann. Oder einfach nur Zivilklamotten? Die Uniform, die er jetzt trug, ist bei der Flucht wenig hilfreich! Wie würde eigentlich der Führer seinen heutigen Sechsundfünfzigsten begehen? Wahrscheinlich standen die Gratulanten Schlange, und es gab statt Wasser Sekt in Strömen. Quatsch! Der Führer trank keinen Alkohol, das ist doch allgemein bekannt! Vielleicht feierte er auch gar nicht, sondern war bei seinen Soldaten, verteidigte Berlin, tat alles dafür, um doch den Endsieg herbeizuführen. „Der Endsieg …“, brabbelt Fritz sarkastisch: „Ja, der Endsieg …“ Er blickt nach oben, schaut durch die mächtigen Baumkronen hindurch. Es scheint, als würde die untergehende Abendsonne jeden Moment die Baumwipfel berühren. Er konnte sie hindurch spüren, fühlte, wie sie sein Gesicht zu berühren begann. Doch noch ein später Gratulant, wenn auch ein imaginärer. Oder wollte Mutter Sonne es ihm gleichtun, sich vor der Dämmerung verstecken, verfolgt von den Mächten der Nacht und den Schergen des Mondes …? Es ist Zeit aufzubrechen. Halbwegs geschützt durch die Wälder und die Dunkelheit setzt er seinen Weg fort. Wo genau er sich eigentlich befand, war ihm unklar, aber zumindest musste die Richtung stimmen, weil er der untergehenden Sonne entgegenlief. Immer Richtung Westen!
Читать дальше