Die Reichsstraße Eins musste parallel links von ihm verlaufen. Oder doch nicht? Schnell kann man im Unterholz die Orientierung verlieren. Doch er muss befestigte Straßen meiden, die Gefahr der Entdeckung wäre um ein Vielfaches größer. Mühsam kämpft er sich durch das Dickicht. Wieder und wieder verspürt er den Druckschmerz der zurückfedernden Äste und die Stiche der kleinen grünen Nadeln. Die Uniform ist mit Harz verklebt und dreckig. Sein Schweißgeruch ist kaum auszuhalten. Wie musste er bloß auf andere wirken? Doch Körperpflege hatte nun wirklich keinerlei Priorität. Einfach nur überleben.
Plötzlich passiert es. Mit einem Mal ist das Dickicht zu Ende. Wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche taucht vor seinen Augen ein Gehöft auf, nur von einer asphaltierten Straße vom Wald getrennt. Sofort duckt er sich und versucht, Schutz hinter einem Busch zu finden. Aufmerksam mustert er die Szenerie. Das Objekt, welches von einem Holzzaun umgeben ist, scheint ein kleines bäuerliches Gehöft zu sein. Aus rotem Backstein, wie man sie hier in der Gegend zuhauf findet. Schemenhaft zeichnet sich das Haupthaus ab, an dessen Eingangstür eine kleine hängende Laterne ein warmes, zaghaftes Licht spendet, dessen Schatten auf die angrenzende Scheune fällt. Mittig ist eine Viehtränke erkennbar. Drei, fast in einer Reihe stehende Bäume behindern die Sicht. Spielte ihm sein Gehirn das alles nur vor? Es herrscht absolute Ruhe, kein einziger Lichtschein in den Fenstern des Hauses. Anscheinend waren die Bewohner längst im Bett. Wie spät mochte es eigentlich sein? Sein Zeitgefühl hatte sich unter den Anstrengungen seines Weges verflüchtigt. Egal. Wenn er sich nun vorsichtig heranschliche und es sich wirklich um eine Tränke handelte, dann könnte er endlich etwas das gröbste Übel angehen, das seinen geschundenen Körper am meisten zusetzte - Durst! Vorsichtig rutscht er auf dem Erdboden entlang, dem Zaun entgegen. Mit letzter Entschlossenheit überwindet er diesen mit so etwas wie einem Hechtsprung und sucht hinter einem der Bäume Deckung. Angestrengt lauscht er in die Nacht. Stille. Niemand hat ihn bemerkt. Nur ein paar Schritte entfernt steht sie, majestätisch verschleiert durch das fahle Mondlicht, begehrenswert wie eine Oase inmitten einer Sandwüste, die Viehtränke. Wie verzweifelt muss man sein, um das rettende Nass dem gemeinen Vieh wegzusaufen? Egal, der Durst ist unerträglich! Er kniet sich auf den Boden, um mit beiden Händen zu schöpfen, als ihn plötzlich von hinten eine Hand packt, ihm den Mund zuhält und ihn mit aller Macht nach hinten auf den Boden schleudert. Panisch versucht er aufzuspringen, um sich zur Wehr zu setzen, wird aber durch eine Hand dran gehindert, während die andere einen Finger an den Mund des Angreifers hält, aus dessen Mund ein leises „Psst!“ schießt. Fritz blickt in ein durch das Zwielicht nur schemenhaft zu erkennendes Gesicht, das einem älteren Mann gehören könnte. Links von der Gestalt steht eine Frau, deren Gesichtszüge im Mondschein deutlicher ablesbar sind. Auch sie wirkt auf den Erschrockenen alt und grau. Irgendwie gespenstisch, diese gramgebeugten Figuren …
In den faltigen Winkeln rund um die Augen ist die blanke Angst eingemeißelt, so jedenfalls empfindet der Über- rumpelte das Gesehene. „Psst! Die Russen!“, raunt der Alte. Und deutet in Richtung der Straße. Dann löst er seinen Griff und weist durch ein stummes Kopfnicken Fritz die Richtung. Hinter der Scheune, im Schutz eines Vogelbeerstrauches, öffnet der vermeint- liche Angreifer eine Luke im Erdboden. Die nur schwach zu erkennende Leiter führt nach unten ins Erdreich. Als Erste macht sich die Alte daran hinab zu steigen, gefolgt von Fritz und schließlich dem Alten, der von innen die Luke wieder verschließt. Nun herrscht absolute Dunkelheit, bis eine Petroleumlaterne diesen Zustand aufhebt und die Umgebung im flackernden Feuerschein preisgibt. Sichtbar wird ein Raum von vielleicht zwanzig Quadratmetern, ein- gerichtet wie eine kleine Wohnstube. Zwei Metall- liegen, die sehr an die Pritschen eines Feldlazaretts erinnern, sind an der Wand befestigt. Hochklappbar, um bei Bedarf Platz zu sparen. Gegenüber steht ein schon in die Jahre gekommener Holzschrank, gleich neben einer Kommode, auf der ein kleiner Feldkocher steht. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, auf den der alte Herr jetzt die Laterne stellt. Fritz erhält ein Zeichen, sich auf einen der beiden Stühle zu setzen, während der Alte sich selbst auf einer der ausgeklappten Liegen niederlässt. Jetzt erst ist der Zeitpunkt gekommen, an dem der „Gast“ das erste Mal in die Augen seines „Gastgebers“ blickt. Es sind warme Augen, ihm undefinierbar wohlwollend, Vertrauen entgegenbringend. Das Augenpaar gehört einem Mann mit schütterem, weißen Haar und einigen tiefen Furchen im Gesicht. Wie alt mochte er sein? Sechzig? Siebzig? Älter? Sein Körperbau, der einem massiven Eichenschrank sehr nahe kommt, deutete auf etwas anderes. Dieser keilförmige Alte schien auf seine Art und Weise durchtrainiert. Wodurch sich dann auch erklären ließ, dass er ihn , den Jüngeren, auf den Erdboden drücken konnte. Dem Augenschein nach mochte die Frau neben ihm nicht wesentlich jünger sein, nur dass ihr Gesichtsausdruck eher Misstrauen und Unbehagen vor dem ungebetenen Gast ausstrahlte. „Bist getürmt …?“, begann der Alte, eher feststellend als fragend. Der Befragte nickt stumm. Lügen hätte eh keinen Zweck, die verdreckte Uniform sprach Bände. „Ja. Werden Sie mich jetzt ausliefern?“ Verächtlich spuckt der Alte auf den Boden: „Hätte ich dich dann hier runter geschleppt?“ „Ich dachte nur …, weil doch die Russen …“ „Papperlapapp, ob Russe oder Wehrmacht! Alles dieselbe Scheiße! Ich habe den letzten Krieg überlebt und gedenke es auch jetzt zu tun. Im Gegensatz zu unserem Sohn, der ist nämlich bei Stalingrad gefallen.“ Während das Gesicht der Frau eine tief sitzende Traurigkeit vernehmen lässt, spuckt der Alte erneut auf den Fußboden und fügt sarkastisch hinzu: „Gefallen für Führer, Volk und Vaterland! Das Theater kann nicht mehr lange dauern und dann werden wir sehen, was morgen kommt. Weiter sollten wir alle nicht mehr denken, lohnt nicht, kommt doch anders! So, du Spund, nun erzähl mal deine Geschichte!“ Zögerlich und etwas wirr, dann doch der Reihe nach gibt Fritz seinen Bericht ab, während das Ehepaar aufmerksam zuhört, einige Male verständnisvoll mit den Köpfen nickend. „So so, hast also heute Geburtstag! Hm, nun eine Kerze gibt es nicht. Musst dich mit der Laterne zufriedengeben. Aber mal was anderes. Unser Horst hatte in etwa dieselbe Statur. Schauen wir vorsichtig nach, ob oben die Luft rein ist.“ Vorsichtig hebt er die Luke einen Spalt an und lauscht in die Nacht. „Scheint alles in Ordnung.“ Dann kommandiert er: „Los rauf! Ab in die Scheune! Die Klamotten runter! In der Scheune steht eine Pumpe, daneben liegt ein Stück Kernseife. Wasche dich, stinkst wie ein Wiedehopf. Und du, Elsbet, such ihm ein paar von Horsts Klamotten zusammen! Ich passe unterdessen auf, falls wir wieder unangemeldeten Besuch bekommen.“ Die Frau steht unbeweglich da. Fritz sieht ihr an, dass sie die Sachen ihres Sohnes nur sehr ungern herausgeben möchte. Zu frisch war bis jetzt die Todesmeldung. Zu neu, der Gedanke loszulassen. Es sind seine Sachen. Damit verbunden schöne Erinnerungen. Das Letzte, was von ihm geblieben war. Und nun sollte sie es einfach diesem dahergelaufenen Fremden überlassen. Doch der Alte bleibt unnachgiebig. Und beendet den stummen Protest: „Los, Elsbet. Nun mach schon! Der Junge hat es nötig.“
Das Wasser der Pumpe ist kalt und spärlich, die Kernseife geruchslos. Und doch hat Fritz das Gefühl, als spüle er sich nicht nur Dreck vom Körper, sondern so etwas wie Leben in seinen Körper. Immer wieder reibt er sich mit dem Seifenschaum ein und drückt in kurzen Intervallen den Pumpenschwängel, bis der Alte stirnrunzelnd ruft: „Lass aber noch ein bisschen Haut dran!“ Mit einigen Kleidungsstücken unter dem Arm erscheint auch Elsbet wieder und tuschelt ihrem Mann etwas ins Ohr. Voller Scham dreht sich der nackte Deserteur zur Seite, was der Hausherr ironisch quittiert: „Hab dich nicht so! Es gibt nichts an einem Mann, was diese Frau nicht schon gesehen hat. Hier, ziehe die Klamotten über! Wir gehen dann wieder runter, ist sicherer. Außerdem hat sie was zum Essen geholt, damit du wieder was zwischen die Kiemen bekommst. Ist zwar nur Kohlsuppe von heute Nachmittag. Und fast durchsichtig, aber ich denke, besser als gar nichts.“
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