Onjali Q. Raúf
Der Junge aus der letzten Reihe
Aus dem Englischen von Katharina Naumann
Illustriert von Pippa Curnick
Deutsche Erstausgabe
© Atrium Verlag AG, Zürich, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
The Boy at the Back of the Class bei Orion Children’s Books, ein Imprint der Hachette Children’s Group (Hodder and Stoughton)
Text von Onjali Raúf © Onjali Raúf, 2018
Aus dem Englischen von Katharina Naumann
Illustrationen von Pippa Curnick © Pippa Curnick, 2018
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN 978-3-03792-152-4
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Raehan gewidmet – dem Baby von Calais.
Und den Millionen geflüchteten Kindern auf der ganzen Welt, die ein sicheres und liebevolles Zuhause brauchen …
Und meiner Mutter und Zak. Für immer.
Der leere Stuhl
Früher gab es ganz hinten in meiner Klasse einen leeren Stuhl. Er war gar nichts Besonderes. Er war nur leer, weil niemand auf ihm saß. Aber dann, genau drei Wochen nach den Ferien, begann für mich und meine drei besten Freunde die aufregendste Zeit unseres bisherigen Lebens. Und alles fing mit diesem Stuhl an.
Das Beste an einem neuen Schuljahr ist, dass man Extrataschengeld bekommt, um sich davon neue Schreibsachen zu kaufen. In den Sommerferien machen meine Mum und ich immer einen Ausflug, damit ich mir ein neues Schreibset kaufen kann. Ich freue mich jedes Jahr so sehr darauf, dass sich meine Füße ganz zappelig anfühlen. In unserer Nähe gibt es nicht so viele schöne Schreibwarenläden – hier haben sie immer nur langweilige Dinosaurier- oder Prinzessinnen-Sets. Deshalb fährt Mum immer mit mir in die Stadt, wo es ganze Straßen voller Einkaufsläden gibt.
Letztes Jahr habe ich mir ein Weltraum-Set gekauft, mit Bildern von einem Astronauten, der am Mond vorbeifliegt. Es war heruntergesetzt, deshalb konnte ich mir ein Federmäppchen, ein Geodreieck, einen Zirkel, zwei Radiergummis und ein langes Lineal kaufen. Das Lineal mochte ich am liebsten, weil der Astronaut darin in Wasser mit Silbersternchen schwebte. Ich habe so viel damit gespielt, dass der Astronaut irgendwann in einer Ecke stecken blieb.
In diesem Jahr habe ich mir ein Tim-und-Struppi-Set gekauft. Ich liebe Tim. Auch wenn er nur eine Figur in einem Comicbuch ist, will ich so sein wie er, wenn ich groß bin. Reporter zu sein und Geheimnisse aufzudecken und Abenteuer zu erleben, muss der beste Beruf der Welt sein. Seit ich denken kann, habe ich zum Geburtstag immer das neueste Tim-und-Struppi-Heft bekommen. Und Mum bringt mir alle alten Comics mit, die ihre Bücherei wegwerfen will, deshalb habe ich jetzt schon eine ganze Sammlung. Ich habe sie alle mindestens schon fünfzig Mal gelesen. Allerdings werde ich mir ein anderes Tier aussuchen müssen, mit dem ich dann reise, weil ich allergisch gegen Hunde bin. Aber ich glaube nicht, dass Katzen oder Hamster oder selbst dressierte Mäuse auch nur halb so nützlich sind wie Tims Hund Struppi. Und obwohl ich schon sehr lange darüber nachdenke, ist mir noch keine Lösung für dieses Problem eingefallen.
Weil das Tim-und-Struppi-Schreibset viel teurer war als das Astronauten-Set, konnte ich nur ein Federmäppchen, ein kleines Lineal und zwei Radiergummis kaufen. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, aber dann fand ich doch, dass es sich lohnen würde, mein gesamtes Taschengeld dafür auszugeben. Vor allem, weil Struppi bellt und Kapitän Haddocks Stimme »Hunderttausend heulende Höllenhunde!« ruft, wenn man auf einen Knopf auf dem Federmäppchen drückt. Ich habe schon Ärger bekommen, weil ich mitten im Matheunterricht darauf gedrückt habe, aber wenn man in Mathe nicht mal sein Federmäppchen bellen lassen kann, dann hat das alles ja überhaupt keinen Sinn.
Ich mag Mathe nicht. Einfache Rechenaufgaben sind in Ordnung, aber gerade lernen wir schriftliche Division und Quadratzahlen und solche Dinge, die mein Hirn einfach nicht gern tut. Manchmal frage ich noch mal nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Und zum Glück helfen mir Tom, Josie und Michael, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Sie sind meine besten Freunde. Wir machen alles zusammen.
Tom hat kurzes, stacheliges Haar und ein schiefes Grinsen. Er ist der Kleinste in unserer Gruppe, aber auch der Lustigste. Er ist erst letztes Jahr in unsere Klasse gekommen, weil seine Eltern aus Amerika hierhergezogen sind, aber wir haben uns sofort angefreundet. Er hat drei ältere Brüder, die ihn ständig ärgern. Nicht ernsthaft – nur zum Spaß. Aber ich habe den Verdacht, dass sie ihm auch das Essen klauen und dass er deshalb so dünn und immer superhungrig ist. Einmal hat er mittags eine ganze Pizza mit Extrabelag und einen doppelten Cheeseburger verdrückt, und danach hatte er immer noch Hunger! Deshalb verstecke ich lieber meine Pausenbrote und Schokoriegel vor ihm.
Josie hat große braune Augen und mindestens eine Million Sommersprossen im Gesicht. Sie ist groß und schlaksig und kaut immer auf ihren Haaren herum. Sie ist das schnellste Mädchen in unserem Jahrgang und kann von der entgegengesetzten Seite des Fußballfeldes einen Ball am Torwart vorbei ins Tor schießen. Sie ist der coolste Mensch, den ich kenne, und ich kenne sie schon, seit wir drei Jahre alt sind. Unsere Mums sagen, dass wir schon vom ersten Tag im Kindergarten an Freundinnen waren. Und deshalb wurden sie kurz darauf ebenfalls Freundinnen. Josie kommt in all meinen Erinnerungen aus der Schulzeit vor. Wir mussten letztes Jahr sogar zum ersten Mal zusammen nachsitzen – wegen eines Hamsters namens Herbert.
Josie hatte gehört, wie einer dieser Mobber aus der Stufe über uns sagte, dass er unseren Klassenhamster Herbert nach dem Unterricht in der Toilette runterspülen würde. Deshalb beschlossen wir, gemeinsam auf Hamsterrettungsmission zu gehen. Wir versteckten Herbert in meinem Rucksack und nahmen ihn einfach mit zu mir nach Hause. Aber natürlich fand Mum es heraus und zwang mich, ihn am nächsten Tag wieder zurückzubringen. Ich versuchte noch, dem langweiligen Mr Thompson zu erklären, was passiert war, aber der wollte mir gar nicht zuhören und erteilte mir zur Strafe Nachsitzen. Und obwohl Josie das gar nicht musste, stand sie auf und sagte, sie hätte mitgeholfen, Herbert zu klauen – nur damit wir zusammen nachsitzen konnten. Du weißt, dass eine Freundin deine beste Freundin ist, wenn sie freiwillig mit dir nachsitzt.
Dann ist da noch Michael. Er hat den tollsten, bauschigsten Afro von allen Jungs in unserem Jahrgang. Die meisten halten ihn für merkwürdig. Aber wir nicht. Seine Brille ist immer kaputt, und seine Schnürsenkel sind nie richtig zugebunden, sodass er ständig darüber stolpert und gegen Gegenstände stößt. Aber wir sind alle so daran gewöhnt, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Meistens ist er ganz still, aber wenn er dann doch etwas sagt, gucken die Erwachsenen immer ganz beeindruckt und sagen, das sei aber »genial« oder »komplex«, oder sie benutzen andere seltsame Wörter, die man nicht gleich versteht. Ich nehme an, dass sie ihn für schlau halten. Erwachsene finden es immer toll, schwierige Wörter für einfache Dinge zu erfinden.
Die anderen machen sich immer lustig über Michael, weil er nicht schnell laufen oder einen Ball gerade schießen kann, aber ihm ist das egal. Vielleicht macht es ihm nichts aus, weil er reich ist. Sein Dad ist Professor und seine Mum Rechtsanwältin, und weil sie immer viel zu tun haben, kaufen sie ihm die neuesten Geräte und Bücher und die allercoolsten Spiele. Als wir letztes Jahr zu seinem Geburtstag bei ihm eingeladen waren, waren wir zum ersten Mal in seinem Zimmer. Es sah darin aus wie in einem Spielzeugladen. Wahrscheinlich ist es viel leichter, sich nicht darum zu kümmern, was andere Leute denken, wenn man sich mit so vielen Spielsachen ablenken kann.
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