Josie und Michael wetteifern immer miteinander, wer am meisten Sternchen und Einsen bekommt. Michael ist der Beste in Geschichte, und Josie ist die Beste in Mathe. Aber ich bin besser im Lesen und in Rechtschreibung als beide zusammen.
Josie hasst Lesen und liest außerhalb der Schule absolut nie. Sie sagt, dass ihr dafür die Fantasie fehle. Ich finde das merkwürdig, denn wie kann man bloß keine Fantasie haben? Vielleicht hat Josie sie verloren, als sie letzten Sommer vom Fahrrad gefallen ist. Mum sagt, Menschen ohne Fantasie sind innerlich tot. Ich glaube nicht, dass Josie irgendwo tot ist – dafür redet sie zu viel.
Wenn man drei beste Freunde hat, macht die Schule selbst an den allerlangweiligsten Tagen Spaß. Wobei der Unterricht in diesem Jahr viel lustiger geworden ist – und das liegt an unserer neuen Lehrerin, Mrs Khan.
Mrs Khan hat ganz lockiges Haar und duftet nach Erdbeermarmelade – was viel besser ist, als nach alten Socken zu riechen, so wie Mr Thompson. Sie ist neu an der Schule und besonders schlau – viel schlauer, als Mr Thompson es jemals war. Und sie gibt uns freitags immer eine Belohnung, wenn wir uns Mühe gegeben haben. Die anderen Lehrer machen das nicht.
Mrs Khan denkt sich für uns immer alle möglichen interessanten Dinge aus, die wir noch nie gemacht haben. In der ersten Woche nach den Ferien half sie uns dabei, Musikinstrumente aus Sachen zu basteln, die wir in der Recycling-Tonne gefunden haben, und in der zweiten Woche las sie uns aus einem ganz neuen Comicbuch vor, das es noch gar nicht in der Schulbücherei gab.
In der dritten Woche passierte dann etwas, das uns so neugierig machte, dass es nicht einmal Mrs Khan schaffte, uns richtig für den Unterricht zu interessieren.
Es war am dritten Dienstag nach den Ferien. Mrs Khan hatte gerade das Klassenbuch aufgeschlagen, als es laut an der Tür klopfte. Es war Mrs Sanders, die Rektorin. Mrs Sanders trägt immer dieselbe Frisur und späht über den Rand ihrer Brille hinweg, wenn sie mit jemandem spricht. Alle haben Angst vor ihr, denn wenn man bei ihr nachsitzen muss, lässt sie einen lange Wörter aus dem Wörterbuch auswendig lernen.
Deshalb verstummten alle, als Mrs Sanders hereinkam. Sie sah sehr ernst aus und trat zu Mrs Khan, und wir überlegten alle, wer jetzt wohl Ärger bekommen würde. Sie flüsterte und nickte ein paar Sekunden lang, dann drehte sie sich plötzlich um, sah uns über ihre Brille hinweg an und zeigte auf den leeren Stuhl ganz hinten in der Klasse.
Wir drehten uns alle um, um einen Blick auf den leeren Stuhl zu werfen.
Wie ich schon sagte, war es ein ziemlich gewöhnlicher Stuhl, und er war leer, weil Dena kurz vor den Ferien nach Wales gezogen war. Niemand vermisste sie wirklich, nur ihre beste Freundin Clarissa. Dena war eine ziemliche Angeberin und erzählte ständig, wie viele Geschenke sie von ihren Eltern bekommt und wie viele Sporthosen sie hat und all solche Dinge, die niemanden interessieren. Sie saß gern in der letzten Reihe, weil Clarissa und sie dort heimlich Bilder von ihren Lieblingspopstars malen oder über alle reden konnten, die sie nicht mochten. Und da nach den Ferien niemand anderes neben Clarissa sitzen wollte, war der Stuhl leer geblie ben.
Mrs Khan und Mrs Sanders unterhielten sich noch ein paar Sekunden lang im Flüsterton, und dann ging Mrs Sanders wieder aus der Tür hinaus. Mrs Khan schien auf etwas zu warten, also warteten wir ebenfalls. Es war alles sehr ernst und aufregend. Aber bevor wir darüber rätseln konnten, was los war, kam Mrs Sanders schon zurück. Und diesmal war sie nicht allein.
Hinter ihr stand ein Junge. Ein Junge, den niemand von uns bisher gesehen hatte. Er hatte kurze dunkle Haare und große Augen, die kaum blinzelten, und blasse Haut.
»Alle mal herhören!«, sagte Mrs Khan. Der Junge trat neben sie. »Das hier ist Ahmet, und er wird von jetzt an in diese Klasse gehen. Er ist gerade erst nach London gezogen. Ich hoffe, dass ihr euch alle Mühe gebt, damit er sich willkommen fühlt.«
Wir schauten schweigend zu, wie Mrs Sanders ihn zu dem leeren Stuhl führte. Er tat mir leid, weil er es bestimmt nicht schön finden würde, neben Clarissa zu sitzen. Sie vermisste Dena immer noch, und alle wussten, dass sie Jungs hasste – sie sagt immer, dass sie dumm sind und stinken.
Es gehört bestimmt zu den schlimmsten Dingen auf der Welt, irgendwo neu zu sein und neben jemandem sitzen zu müssen, den man nicht kennt. Besonders neben jemandem, der einen böse anstarrt, so wie Clarissa es tat. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich mich mit dem neuen Jungen anfreunden würde. Ich hatte an dem Morgen zufällig ein paar Zitronendrops in meiner Jackentasche und nahm mir vor, ihm in der Pause einen davon zu geben. Und ich würde Josie, Tom und Michael fragen, ob sie auch seine Freunde sein wollten.
Immerhin sind vier neue Freunde besser als keiner. Besonders für einen Jungen, der so verängstigt und traurig aussah wie der, der jetzt ganz hinten bei uns in der Klasse saß.
Der Junge mit den Löwenaugen
Den Rest des Tages schaute ich immer wieder heimlich über die Schulter zu dem neuen Jungen und merkte, dass alle anderen dasselbe taten.
Die meiste Zeit hielt er den Kopf tief gesenkt, aber hin und wieder erwischte ich ihn dabei, wie er zu mir herübersah. Er hatte die merkwürdigste Augenfarbe, die ich je gesehen habe – wie ein Meer, aber an einem halb sonnigen, halb bedeckten Tag. Sie waren grau und silbrigblau mit goldbraunen Flecken darin. Sie erinnerten mich an einen Film, den ich einmal über Löwen gesehen hatte. Der Kameramann hatte so nah an das Gesicht des Löwen herangezoomt, dass man nur noch seine Augen sehen konnte. Die Augen des neuen Jungen waren genau wie die Löwenaugen. Man wollte gar nicht mehr aufhören hineinzustarren.
Als Tom letztes Jahr in unsere Klasse kam, habe ich ihn auch oft angestarrt. Ich stellte mir vor, dass er aus einer amerikanischen Spionfamilie kam – so wie die aus den Filmen. Er erzählte mir später, dass er schon dachte, dass ich eine Meise hätte. Das dachte der neue Junge vermutlich auch, aber es ist schwierig, neue Leute nicht anzustarren, besonders, wenn sie Löwenaugen haben.
In der ersten Stunde hatten wir Erdkunde, deshalb konnten wir nicht aufstehen und den neuen Jungen begrüßen. In der Pause suchte ich dann auf dem Pausenhof nach ihm, konnte ihn aber nirgends finden. In der zweiten Stunde hatten wir Sport, aber der neue Junge machte nicht mit; er saß in der Ecke und starrte seinen Rucksack an, der rot und sehr schmutzig war und einen schwarzen Streifen darauf hatte. Bestimmt hatte er seine Sportsachen vergessen, weil sein Rucksack ganz leer und schlaff aussah. Ich versuchte, ihm zuzuwinken, aber er schaute überhaupt nicht hoch, nicht ein einziges Mal.
Beim Sport stelle ich mir immer vor, dass ich für ein Abenteuer mit Tim und Struppi trainiere und deshalb superschnell sein muss. Das Problem dabei ist bloß, dass meine Beine noch nicht so lang sind, wie ich sie gern hätte. Selbst wenn ich so stark abspringe, wie ich kann, bleibe ich irgendwie immer mitten im Sprung hängen. Jedes Mal wünsche ich mir zum Geburtstag, dass ich mindestens zehn Zentimeter wachse, und ich trinke auch so viel Milch, wie ich kann, damit sich meine Knochen strecken. Aber obwohl ich jetzt schon neundreiviertel bin, bin ich seit meinem letzten Geburtstag nur knapp vier Zentimeter gewachsen. Ich versuchte also mit aller Kraft, vor den Augen des neuen Jungen schon beim ersten Mal über die Stange zu springen, blieb aber hängen. Zum Glück bekam er das aber gar nicht mit, weil er die ganze Zeit seinen Rucksack anstarrte.
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