»Na, hallo, mein kleiner Zwerg!«, sagte Mum. Ich merkte, dass sie überrascht war, mich zu sehen, weil ihre Augenbrauen nach oben zuckten und in ihren Haaren verschwanden. »Was machst du denn noch so spät hier?«
»Ich kann nicht schlafen«, antwortete ich.
»Ach so«, sagte sie. Sie umarmte mich, sah mich dann nachdenklich an und legte mir die Hand auf die Stirn. Das tat sie immer, wenn sie sich um mich Sorgen machte.
»Fühlst du dich krank?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hast du zu Abend gegessen?«
Ich nickte. Normalerweise esse ich montags abends eine Dosensuppe und ein Brötchen. Mrs Abbey von nebenan kommt und hilft mir dabei. Sie ist alt und kann nicht mehr gut gehen, aber manchmal macht sie mir auch Fischstäbchen. Meine Lieblingssuppe ist Tomatensuppe, weil sie mich an Tomatenketchup erinnert. Ketchup gehört zu den Dingen, die ich am allerliebsten esse. Man kann einen Klecks Ketchup auf alles geben, was nicht gerade ein Nachtisch ist, und ich wette mit euch um mein Taschengeld, dass jedes Gericht damit sofort besser schmeckt! Ketchup steht an dritter Stelle auf meiner Liste der leckersten Dinge, direkt hinter Schokolade und Eis in der Waffel vom Eiswagen.
»Tja«, sagte Mum und stellte ihre Taschen ab. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob dich ein bisschen heißer Kakao müde macht! Komm, leiste mir ein wenig Gesellschaft beim Teetrinken.«
Ich folgte Mum in die Küche und schaute ihr dabei zu, wie sie das Kakaoglas herausholte und den Kessel aufsetzte. Und dann platzte es aus mir heraus: »Mum, was ist ein Flüchtlingskind?« Manchmal macht mein Mund Sachen, für die mein Gehirn noch gar nicht bereit ist.
Mum hielt inne und sah mich an.
»Ein Flüchtlings kind?«, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn. »Wo hast du das denn gehört?«
»In der Schule«, antwortete ich. »Jemand hat den neuen Jungen in unserer Klasse ein Flüchtlingskind genannt.«
»Ihr habt einen neuen Jungen in der Klasse?«
Ich nickte.
»Und Mrs Khan hat euch nichts über ihn erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur, dass er Ahmet heißt und neu in London ist. Ich habe versucht, mich mit ihm anzufreunden, aber er spricht mit niemandem, deshalb weiß ich nicht, ob er sich auch mit mir anfreunden will …«
»Verstehe …« Mum verstummte. Sie goss Milch ins Milchtöpfchen und wartete, bis sie heiß wurde. Ich wusste, dass sie über etwas Ernstes nachdachte, weil sie sich die ganze Zeit das Kinn rieb. Das macht sie nur, wenn sie etwas sehr Wichtiges sagen will.
»Mum?«, flüsterte ich.
Aber Mum schwieg, und ich begann schon, mir Sorgen zu machen. Normalerweise antwortet Mum immer sofort auf meine Fragen. Vielleicht war es ja nicht nett von Mr Brown gewesen, Ahmet »Flüchtlingskind« zu nennen.
Ich setzte mich auf meinen Stuhl, schaute aus dem Fenster und wartete auf meinen heißen Kakao. Unsere Wohnung ist nicht besonders groß, aber wir haben einen kleinen Tisch am Fenster, um den vier Stühle stehen.
Als Mum mit dem heißen Kakao und ihrem Tee fertig war, setzte sie sich auf den Stuhl mir gegenüber und nahm zwei Zuckerwürfel aus dem Zuckerdöschen. Sie balancierte sie auf dem Löffel und rührte dann in kleinen Kreisen ihren Tee um. Wir sahen beide dabei zu, wie die Würfel immer kleiner wurden und sich schließlich auflösten.
»Mum … kannst du mir erklären, was ein Flüchtlingskind ist – ich meine, wo kommen sie her?«
Mum sah mich an. Sie hat mindestens zwanzig unterschiedliche Blicke, und ich weiß genau, was sie jeweils bedeuten. Dieser hier bedeutete, hör auf, mich zu löchern. Dann sagte sie: »Erinnerst du dich an diese Rettungsboote im Fernsehen, mein Schatz? Die, in denen so viele Leute ganz eng beieinandersaßen? Du hast mich damals danach gefragt.«
Ich nickte. Das war in den Sommerferien gewesen, Mum und ich hatten im Wohnzimmer gesessen. Sie löste ein Kreuzworträtsel, und ich malte ein paar Zeichnungen aus. Im Hintergrund liefen die Nachrichten. Erst erschien eine Reporterin auf dem Bildschirm, die an einem Strand stand, dann wurden Leute in Booten mitten auf dem Meer gezeigt, die alle sehr verängstigt aussahen. Sie hatten mir leidgetan, und ich hatte Mum gefragt, was da los war.
»Erinnerst du dich noch daran, was ich damals gesagt habe?«, fragte Mum.
»Du hast gesagt … dass sie versuchen, ein neues Zuhause zu finden, weil sie in ihrem Zuhause nicht mehr leben können.«
»Ganz genau, mein Liebling. Das waren Flüchtlinge , wie die Leute sie nennen, wobei man besser geflüchtete Menschen oder einfach Geflüchtete sagt.. Und Kinder wie der neue Junge in deiner Klasse sind geflüchtete Kinder, weil sie ihre Heimat verlassen und sehr weit reisen müssen, um ein neues Haus zum Leben zu finden.«
»Meinst du, so wie Dena?«, fragte ich und überlegte, ob Dena wohl auch ein geflüchtetes Kind war. Sie musste nach Wales ziehen, weil ihre Mum und ihr Dad in London kein neues Haus finden konnten.
Mum schüttelte den Kopf. »Nicht ganz«, sagte sie. »Denas Mum und Dad wollten umziehen. Sie wollten in einem viel größeren, schöneren Haus wohnen als in dem, das sie schon hatten. Aber Geflüchtete sind gezwungen fortzugehen – weil böse Leute es ihnen unmöglich gemacht haben zu bleiben. Diese bösen Leute werfen Bomben auf ihre Häuser und zerstören alle schönen Gegenden in ihrer Stadt. Und so werden die Städte so schrecklich und so beängstigend, dass die Menschen nicht mehr dort leben können. Also laufen sie viele Kilometer und steigen in Boote, um in Länder zu reisen, in denen sie noch nie waren, und sich einen Ort zu suchen, an dem sie sich wieder sicher fühlen.«
»Oh«, sagte ich leise. Ich fragte mich, was die Geflüchteten wohl getan hatten, dass die bösen Leute so wütend auf sie waren. Letztes Jahr hatten zwei Erstklässler Brendan-dem-Quälgeist ein Bein gestellt, weil er sie ständig jagte. Das hatte ihn so wütend gemacht, dass er ihre Brotboxen auf den Boden geworfen hat und auf ihrem Essen herumgetrampelt ist.
»Was haben die Geflüchtete denn gemacht, dass die bösen Menschen ihnen jetzt wehtun wollen?«, fragte ich. Es musste schon etwas sehr Schlimmes sein, wenn man ihnen deswegen Bomben auf die Häuser warf. Mum schüttelte den Kopf. »Gar nichts, Liebling. Die bösen Menschen sind nur einfach viel stärker als sie, und es gefällt ihnen, sich groß und mächtig zu fühlen, indem sie anderen wehtun. Weißt du, manche Leute glauben, dass sie mehr Macht haben, wenn sie anderen Menschen etwas wegnehmen. Und je mehr Macht sie haben, desto mehr wollen sie davon. Also verletzen und verängstigen sie immer mehr Menschen, bis alle nur noch weglaufen wollen.«
»Genau wie die Mobber in der Schule!«, sagte ich zornig.
»Na ja … wahrscheinlich ist es ein wenig so«, stimmte mir Mum zu und lächelte. »Nur dass die Mobber, vor denen die Geflüchteten weglaufen, viel größer und schrecklicher sind. Sie zwingen die Menschen, alles zurückzulassen, was sie je besaßen. Sogar die Menschen, die sie am allerliebsten haben.«
Ahmet tat mir leid. Vielleicht war er auch gezwungen worden, die Dinge zurückzulassen, die er am allerliebsten hatte, und deshalb sprach er mit niemandem. Ich versuchte, mir zu überlegen, was ich zurücklassen würde, wenn ich vor Mobbern davonlaufen müsste. Aber ich konnte mich nicht entscheiden. Ich weiß nur, dass ich Dads Grammofon niemals zurücklassen könnte, und seinen Lieblingshammer, der immer noch in der untersten Küchenschublade liegt, auch nicht.
Mum stand auf und stellte ihren Becher in die Spüle. »Also, ich weiß, dass du dich gern mit diesem neuen Jungen anfreunden würdest, aber du darfst nicht zu ungeduldig sein. Er braucht erst mal eine Menge Zeit und Ruhe, okay?«
Ich nickte, obwohl ich nicht verstand, was sie meinte. Wenn ich neu wäre, würde ich so schnell wie möglich Freunde finden wollen – besonders, wenn ich gerade vor Mobbern davongelaufen wäre, die viel größer und schrecklicher sind als die Mobber an der Schule! Ich überlegte, meiner Mum von den Zitronendrops, den weißen Mäusen und der Orange mit dem Smiley darauf zu erzählen, aber da sagte sie: »Die Welt war noch nie nett zu Geflüchteten«, und es klang traurig. Sie klang genauso, wie wenn sie von meinem Dad sprach. Obwohl ich noch mindestens vier Fragen stellen wollte, beschloss ich, nichts mehr zu sagen.
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