Verwirrt schaute sie auf. „Victor, Entschuldigung, was haben Sie eben gesagt?“
„Der Abend ist noch jung und ich würde Sie jetzt in den Kindertrakt begleiten.“
Wie bitte? Jetzt? Eigentlich wollte sie sich noch um ein Hotelzimmer kümmern. Der Gedanke an eine weitere Nacht in diesem Haus, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Aber bevor Victor es sich anders überlegte, sagte sie zu.
Das Haus, in welchem die Kinder untergebracht waren, lag abseits. Es schien noch einen Tick maroder, als die anderen Gebäude. Die Einrichtung zeigte sich ebenso spartanisch, wie erwartet. Es gab kein Spielzeug oder andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Verlassen hockten die Kinder in Gitterbetten oder speziellen Stühlen, teilweise fixiert und festgebunden.
Die meisten kindlichen Patienten litten unter ausgeprägtem Hospitalismus. Die menschliche Zuneigung fehlte an allen Ecken und Enden. Das Pflegepersonal war mit der Versorgung der Kinder beschäftigt, Zeit für eine liebevolle Betreuung fehlte. Es herrschte ein rauer Umgangston und Katharina zerriss es das Herz, die Kinder um Zuwendung betteln zu sehen. Leise stöhnte sie auf.
„Was haben Sie denn erwartet? Die Menschen in einer sogenannten Irrenanstalt gelten hier nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Ich denke, dass dürfte Ihnen nicht entgangen sein. Russland hat großen Nachholbedarf.“
„Ich bin mir dessen durchaus bewusst, trotzdem stimmen mich diese Bilder traurig. Wenn dem nicht so wäre, sollte ich meinen Beruf aufgeben.“
„Haben Sie genug gesehen?“
„Ich denke schon. Machen wir jetzt Feierabend?“
„Ja. Soll ich Sie zu ihrer Unterkunft begleiten?“
„Nein danke, ich finde mich schon zurecht. Victor, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
„Danke, schlafen Sie gut.“
Beide traten gleichzeitig vor die Tür und die kühle Abendluft hüllte sie ein. Den ganzen Tag hatte sie sich drinnen aufgehalten und die frische Luft tat ihr gut. Victor lief schnurstracks in Richtung Hauptgebäude und verschwand im Hintereingang.
Zum ersten Mal allein außerhalb der Mauern, ließ sie die Umgebung auf sich wirken. Der dichte Wald hinter der Kinderstation wirkte bedrohlich, aber dafür war sicher nur die abendliche Dämmerung verantwortlich. Die verschlungenen Pfade führten ins Nirgendwo und bevor sie sich verlief, blieb sie in der Nähe der Gebäude. Grau in Grau wirkte alles noch trostloser als bei Tageslicht.
Sie schritt zwischen knorrigen Kiefern entlang und erneut flammte das Heimweh auf. Noch vier Tage musste sie durchhalten, das sollte wohl zu schaffen sein. Hinter ihr erklang ein leises Kichern. Erschrocken drehte sie sich um und tastete die Umgebung mit ihren Blicken ab.
„Ist da jemand?“
Ihre Frage blieb unbeantwortet, sie hatte sich bestimmt getäuscht. Jetzt sollte sie besser ihr Nachtquartier aufsuchen, anstatt durch das Parkgelände zu irren. Der Kies knirschte laut unter ihren Sohlen, als sie den Weg entlanglief. Trotzdem hörte sie das leise Rascheln hinter ihrem Rücken.
„He, was soll denn das?“, rief sie verärgert.
Trieb hier jemand seinen Schabernack mit ihr? Die Situation fand sie überhaupt nicht witzig.
Ein erneutes Kichern dicht neben ihr, ließ sie schreckhaft zusammenzucken. Was zum Teufel sollte das? War vielleicht einer der kleineren Patienten entwischt?
Jetzt wollte sie es genauer wissen und sprintete nach rechts zu einer hohen Buche. Hinter dem mächtigen Stamm konnte sich gut und gerne ein Kind verstecken. Keuchend bremste sie ab und umrundete mehrmals den Baum. Nichts.
Was nun? Sollte sie weitersuchen?
Wahrscheinlich spielten ihr die Sinne einen Streich, denn sie war total übermüdet. Erschöpft trottete sie zum Haus. Ein Singsang aus der Ferne ließ sie innehalten. Sie blieb stehen und lauschte den unverständlichen Worten. Es musste ein Mädchen sein, deren glockenhelle Stimme durch die Dämmerung hallte.
Vielleicht stand eines der Fenster offen und der Wald warf die Schallwellen zurück? Besser, sie sah sicherheitshalber noch einmal nach. Mit großen Schritten hastete sie zurück und umrundete den Kindertrakt. Einige der Fenster standen offen, doch nur das Geschrei und Gekrächze der Insassen drang nach draußen. Die Stimme des Mädchens war inzwischen verstummt.
Katharina wartete noch eine Weile, um auf Nummer sicher zu gehen, aber alles blieb still. Erst als ein trockener Ast am Waldrand knackte, zuckte sie nochmals ängstlich zusammen. Das war bestimmt nur ein Tier, versuchte sie sich zu beruhigen. Wieder erklang ein leises Kichern. Verdammt, was sollte das?
Anstrengt starrte sie zum Waldrand. Dieser bildete eine dunkle und furchteinflößende Wand und gab nichts preis. Es würde ihr schon nichts passieren, wenn sie rasch hinüberschritt und sich vergewisserte, dass keines der Kinder ausgebüxt war.
Sie holte tief Luft und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen. Eigentlich gehörte sie überhaupt nicht zur Gattung der hysterischen Weibchen und selten jagte ihr etwas Angst ein. Doch hier war alles irgendwie so anders, so sonderbar. Ludmilla schien auf den ersten Blick die einzig normale Person auf diesem Gelände zu sein. Das restliche Personal legte eine abstoßende Gleichgültigkeit an den Tag, die ihresgleichen suchte.
Tja, andere Länder, andere Sitten. Ein tiefer Seufzer entwich aus ihrer Brust.
Endlich hatte sie den Waldrand erreicht und horchte. Überall raschelte das trockene Laub, in der Ferne schrie eine Eule und Fledermäuse sausten blitzschnell über ihren Kopf hinweg. Sie nahm die verschiedenen Gerüche des Waldes in sich auf, besonders den nach feuchter Erde.
So ganz geheuer war ihr nicht zumute und sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sollte sie den vor sich liegenden Dschungel betreten oder es besser bleiben lassen?
Inzwischen drangen nur noch die Geräusche des Waldes an ihr Ohr und sie wandte sich zögerlich ab. Nachdem sie einige Meter zurückgelegt hatte, hörte sie erneut die melodische Stimme eines Kindes. Der Gesang schallte tatsächlich aus dem Wald heraus.
Sie fluchte leise und wünschte sich, diese kindliche Stimme überhört zu haben. Ob sie jemanden um Hilfe bitten konnte, der sie bei der Suche unterstützte? Und wurde überhaupt ein Kind vermisst?
Entschlossen lief sie zur Kinderstation und suchte nach einer Pflegerin, mit der sie sich auf Deutsch oder Englisch verständigen konnte.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich habe draußen ein Kind gehört. Könnte es vielleicht sein, dass einer ihrer kleinen Patienten ein Schlupfloch nach draußen gefunden hat?“
Die junge Pflegerin forderte sie auf, sich ein wenig zu gedulden. Es würde einige Zeit dauern, bis sie alle Stationen telefonisch abgefragt hatte.
Nervös schritt Katharina den Flur auf und ab. Inzwischen hatte die graue Dämmerung der rabenschwarzen Nacht das Zepter überlassen. Das würde eine eventuelle Suche erschweren. Voller Ungeduld starrte sie ständig auf die Uhr, bis sie nach einer Viertelstunde endlich erlöst wurde.
„Ich kann Sie beruhigen, alle Patienten liegen in ihren Betten, niemand fehlt.“
„Das ist sehr seltsam. Dicht neben mir habe ich ein Kichern gehört und kurze Zeit später ertönte ein glockenheller Gesang. Ein Kind allein im Wald, noch dazu in der Nacht, das ist doch gefährlich!“
„Ach so, dieses Phänomen meinen Sie. Na dann hätten wir uns den ganzen Aufruhr eigentlich sparen können. Ein kleines Mädchen, welches in der Kapelle zu Tode kam, spukt noch immer auf dem Gelände herum. Man erzählt sich, es will die Menschen vor dem Unheil bewahren, vor dem Bösen. Auch wir haben den Gesang schon mehrmals gehört. Es ist nur eine einsame verirrte Seele, glauben Sie mir.“
„Ja dann … tut mir leid für den ganzen Aufwand, den ich Ihnen bereitet habe.“
„Geht schon in Ordnung, schließlich konnten Sie davon nichts wissen.“
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