Victor ging in ein Schwesternzimmer und reichte ihr einen weißen Kittel. Tja, so heruntergekommen die Gebäude auch wirkten, Ordnung musste wohl sein. Während sie sich den Kittel überzog, erklärte er ihr die Wirkung und Verabreichung der Medikamente. Meist waren es Mittel, die zur seelischen und körperlichen Entspannung beitrugen, also auf gut Deutsch: Um die Insassen, so wie anderswo auch, ruhig zu stellen. Wie Marionetten quasi, wurden sie abgefertigt.
Der direkte Umgang zwischen Pfleger und Patienten war schroff und stark unterkühlt. Dieser Anblick versetzte ihr einen Stich, aber in der Heimat war es manchmal auch nicht besser. Die Räume als solches waren groß und besaßen hohe Decken. Die Ausstattung ließ sehr zu wünschen übrig, ebenso die Privatsphäre.
Meist teilten sich zehn Patienten ein Zimmer. Altertümliche Gitterbetten und Metallcontainer verwandelten den Raum nicht unbedingt in eine Wohlfühloase. Keinerlei persönliche Gegenstände oder gar Gardinen schmückten die Räume.
Das Personal begrüßte Victor ehrfürchtig und die Insassen gingen ihm aus dem Weg. Einige flüchteten sogar verschreckt auf ihre Zimmer. Dieses Verhalten widersprach ihrem eigenen, denn sie fühlte sich extrem von ihm angezogen. Und auch das verwirrte sie total. Hier war einfach nicht der richtige Ort, um so etwas zu fühlen. Vielleicht fehlte ihr einfach nur eine anständige Mütze Schlaf.
Auf dem nächsten Flur stand ein junger Mann mit heruntergelassener Hose vor ihnen und urinierte in eine Ecke. Victors kraftvolle Stimme donnerte über den Gang, als er nach einer Pflegerin rief. Eine ältere Frau, mit zwei Zahnlücken im Oberkiefer, eilte herbei und bugsierte den jungen Mann in einen Raum. Dieser wehrte sich jedoch. Erst als Victor ihm unter die Arme griff, erstarrte der Patient und ließ sich willenlos auf die Toilette führen.
Genau in diesem Moment umklammerte eine knochige Hand ihren Unterarm. Erstaunt drehte sie sich um und blickte in das runzelige Gesicht einer alten Dame. Sie saß im Rollstuhl und schaute ihr geradewegs in die Augen. Leise flüsterte sie: “Beschatch … beschatch …“
Hilflos zuckte Katharina die Schultern, sie konnte die Worte schlichtweg nicht übersetzen. Victor gesellte sich wieder zu ihr und sofort schaute die gebrechliche Frau in eine andere Richtung. Höflich verabschiedete sich Katharina auf Russisch von ihr. Diese Worte hatte sie vorher schon eingeübt, aber mehr sprachliches Knowhow besaß sie einfach nicht. Bevor sie die Abteilung wechselten, warf Victor der älteren Dame noch einen seltsamen Blick zu.
Inzwischen war es Mittag und Victor zeigte ihr den geräumigen Speisesaal, einer Aula ähnlich. Tische und Stühle reihten sich unter der hohen Decke aneinander, alles wirkte schmuddelig und wenig einladend. Klappernde Blechschüsseln und Plastiktassen, wohin man auch schaute. Die Suppe sah wenig appetitlich aus und die trockenen Brotscheiben bogen sich in alle Himmelsrichtungen. Die gesamte Einrichtung zog sie seelisch irgendwie herunter. Egal, was sich ihr noch offenbarte, sie würde für diese Menschen um Spendengelder bitten. Anständige Betten und weiteres Mobiliar waren unabdingbar.
Victor informierte sie darüber, dass sie die Mahlzeit gemeinsam mit der Frau Direktorin in seinem Büro einnehmen würden.
„Oh, ich dachte Sie wären der Anstaltsleiter“, stellte sie verwundert fest.
„Nein. Ich bin nur für die Patientenakten und die Korrespondenz zuständig“, erwiderte er lächelnd.
„Dann sind Sie also gar kein Arzt?“
„Doch, doch, ich habe durchaus Medizin studiert und meinen Doktortitel in Psychologie. Aber diese Art der Arbeit liegt mir mehr.“
Etwas verwirrt folgte sie ihm in sein Büro. Seltsame Strukturen, dachte sie und setzte sich. Eine grauhaarige Schwester brachte das Essen in einem altmodischen Emaillebehälter. Sie füllte die Teller, bestückte den Brotkorb und verließ grußlos den Raum. Kurz darauf klopfte es an die Tür und die Direktorin betrat das Zimmer.
Die Frau war um die fünfzig, trug ein blaues Kostüm und das wasserstoffblonde Haar war zu einem strengen Knoten gebunden. Grellgeschminkt und stark duftend, reichte sie Katharina ihre gepflegte Hand. Sie sprach Englisch mit einem starken Akzent und erkundigte sich nach Katharinas Wohlbefinden. Außerdem wollte sie genau wissen, welche Eindrücke sie bis jetzt gewonnen hatte.
Tja, was sollte Katharina darauf antworten? Dass die unpersönliche Behandlung der Patienten und die stark renovierungsbedürftigen Gebäude ihr schlichtweg aufs Gemüt drückten? Warum musste die Direktorin ausgerechnet so eine Frage stellen. Hoffentlich sah man ihr nicht an, wie angestrengt sie an einer zufriedenstellenden Antwort bastelte.
„Herr Wolkow hat mich durch einige Bereiche geführt und bis jetzt ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ich lasse alle Eindrücke erst einmal auf mich wirken, bevor ich diese verarbeite.“ Wischiwaschi und bestimmt nicht zufriedenstellend, aber so sie war wenigstens aus dem Schneider.
Die Direktorin atmete tief ein und warf einen Blick zu Victor. „Leider hat einer unserer Angestellten das Videomaterial auf einem dieser berühmten Channel hochgeladen. Wir haben ihm sofort gekündigt, aber die Verbreitung des Videos ließ sich nicht mehr stoppen. Inzwischen hat eine regelrechte Hetzjagd begonnen. Wir versuchen zu retten, was noch zu retten ist und ich hoffe dabei auf ihre Hilfe. Vielleicht können Sie diese Videoaufnahmen als Fälschung entlarven.“
Davon hatte Katharina gar nichts gewusst. War sie nur aus diesem einen Grund hier, um das Gewissen der Direktorin reinzuwaschen? Sie spürte den Ärger in sich aufsteigen und schenkte Victor einen missbilligenden Blick.
Ihn ließ die Sache anscheinend kalt und er löffelte gelassen seine Suppe. „Essen Sie, solange es noch warm ist“, forderte er sie auf.
Und gerade das hätte sie am liebsten vermieden. Die Konsistenz der Kohlsuppe war durchscheinend flüssig. Hier und da schwamm verwegen ein winziges Stück Rind, und der Kümmel, der sich zur Genüge auf dem Teller tummelte, weckte ihren Ekel.
Brot! Brot war immer gut. Herzhaft biss sie in die trockene Scheibe und kaute was das Zeug hielt. Wenn sie jetzt einen Löffel Suppe zu sich nahm, saugte das Brot vielleicht die Flüssigkeit auf und sie musste nichts schmecken.
Wenn sie auch nur ansatzweise geahnt hätte, was sie hier erwartete, dann wäre sie einfach Zuhause geblieben. Endlich war der Teller leer, bis auf den Kümmel. Der häufte sich fein säuberlich am Rand. Victor fragte höflich, ob sie einen Nachschlag wolle.
„Nein danke, ich esse nicht sehr viel“, lautete ihre Antwort und hastig schob sie den Teller von sich. Als sie aufblickte, entdeckte sie in Victors Augen ein spöttisches Blitzen.
Die Direktorin erhob und verabschiedete sich. „Ich hoffe, Sie können recht bald ein Urteil fällen und dieses Videomaterial widerlegen.“
„Ich werde mein Bestes geben“, erwiderte Katharina aufrichtig.
Bevor die Direktorin Victors Büro verließ, bedachte sie ihn mit einem strengen Blick. Dann waren sie wieder allein.
„Haben Sie einen bestimmten Wunsch, welche Abteilung Sie als nächstes anschauen möchten oder wollen wir erst einmal das Videomaterial sichten?“
Das, was sie bei ihrem Rundgang am Vormittag gesehen hatte, reichte ihr völlig. „Ich denke, wir sollten jetzt einen Blick auf die Videos werfen. Bekomme ich denn diesen Bereich auch persönlich zu Gesicht?“
„Selbstverständlich! Aber wir möchten die Patienten nur ungern beunruhigen, deshalb müssen wir uns an die Absprachen halten. Diese Leute dort unten, werden vor sich selbst und vor den anderen geschützt. Es erfolgt eine Rundumüberwachung durch Kameras.“
Victors Wortwahl stieß bitter auf und sie fragte sich ernsthaft, ob sie den Anblick dieser weggesperrten Menschen ertragen konnte.
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