Katharinas Finger umklammerten die Tischplatte und für einen Augenblick wurde ihr schwindelig. So schlecht hatte sie den Gesundheitszustand gar nicht eingeschätzt. Oder lag hier ein Irrtum vor und die Dame wurde nur verlegt?
Noch einmal versuchte sie sich zu verständigen und die Pflegerin teilte ihr daraufhin die Todesursache mit – Herzstillstand, altersbedingt.
Ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrem Nackenbereich aus und die inneren Alarmglocken schrillten. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Verstört eilte sie die Flure zurück und betrat den Überwachungsraum.
Ludmilla saß wieder gelangweilt vor den Monitoren. Vereinzelt tobte ein Insasse, während die anderen schliefen.
Erstaunt drehte sie sich um. „Du bist schon zurück? Das ging aber fix.“
„Ja“, druckste Katharina herum. Dann schob sie einen Stuhl neben Ludmilla und setzte sich.
„Victor hat mir vorhin einige der Örtlichkeiten gezeigt. Eine ältere Dame, die in einem Rollstuhl saß, ergriff meinen Arm und raunte mir beschatch zu. So ganz genau kann ich das Wort leider nicht mehr wiedergeben. Nun wollte ich die Dame vorhin noch einmal aufsuchen, aber mir wurde mitgeteilt, dass sie verstorben sei. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, denn sie wirkte überhaupt nicht desolat, ganz im Gegenteil.“
„Ja, manchmal geht es hier schnell mit dem Tod. Zu schnell. Wir hatten sogar schon einmal die Polizei in den Gebäuden, aber es wurde nichts gefunden. Damals starb ganz überraschend ein kleines Mädchen. Die Eltern hatten sich nie um das Kind mit Down Syndrom gekümmert, aber als es starb, war hier die Hölle los.“
„Was geschah denn mit dem Kind? Wie kam es zu Tode?“
„In der Nähe des Waldes gibt es eine kleine Kapelle. Das Mädchen war wohl ausgebüxt und die Suchmannschaften fanden es erfroren in der Krypta. Nur dem Leichenbestatter war damals aufgefallen, dass dem Kind mehrere Brüche zugefügt worden waren. Er wollte den Vorfall melden, aber das wusste die Direktorin zu verhindern. Noch heute behauptet er, dass die Knochen regelrecht zerschmettert wurden. Jemand muss das Mädchen mit extremer Kraft an die Wand geschleudert haben.“
„Gab es denn keine sichtbaren Spuren?“
„Nein, merkwürdigerweise. Das Gesicht wies keinerlei Verletzungen auf. Nur Arme, Beine und der Torso wurden in Mitleidenschaft gezogen.“
„Wurde das Mädchen sexuell missbraucht?“
„Ich denke nicht. Der Bestatter hat mir später nur erzählt, dass nach der Leichenstarre die Extremitäten wie bei einer Schlenkerpuppe herabbaumelten.“
„Höchst seltsam. Laufen denn viele Patienten weg?“
„Nicht mehr als anderswo. Im Prinzip ist alles gut gesichert, nur im Falle einer Evakuierung würde es zeitlich ganz schön knapp werden. Bei den Kindern verhält es sich anders. Da muss man aufpassen und auf der Hut sein. Trotz ihrer geistigen Behinderung sind einige ganz schön pfiffig.“
„Ich wusste gar nicht, dass ihr auch Kinder betreut.“
„Ja, in einem Nebentrakt. Ungewollte Kinder werden ins Waisenhaus gegeben und wenn die Heime überquellen, bringen sie die auffälligsten Kinder zu uns. Ansonsten werden sie erst ab dem achtzehnten Lebensjahr eingewiesen. Die Bedürfnisse der Kleinen kommen zu kurz, sie bleiben meist sich selbst überlassen. So ist das eben.“
Ludmillas Abgeklärtheit versetzte Katharina einen Stich.
„Du kannst nicht alles an dich heranlassen“, fuhr sie fort. „Irgendwann macht dich das kaputt und du musst mit der Arbeit aufhören. Verstehst du das?“
Katharina nickte. Sie würde Victor fragen, ob sie auch den Kindertrakt zu sehen bekam. „Ludmilla, eine Frage noch, bevor ich es vergesse: Was heißt eigentlich beschatch ?“
„Übersetzt heißt es fliehen.“
„Ob die Dame wohl auf meine Hilfe hoffte, um der Anstalt zu etnkommen?“
„Ich weiß es nicht …“
Genau in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Victor trat ein. „Wie ich sehe, haben Sie sich gut unterhalten.“
Ludmilla schaute betreten auf das schäbige Linoleum.
„Sie hat einige meiner Fragen ausführlich beantwortet“, antwortete Katharina.
„So? Hat sie etwa aus dem Nähkästchen geplaudert?“
Was sollte das? War das eine Art Verhör? Und woher konnte Victor so gut Deutsch? Er fing ihren irritierten Blick auf und seine Züge wurden weicher.
„Haben Sie sich denn alle Aufzeichnungen angesehen, um sich ein Urteil bilden zu können?“
„Ja, soweit schon. Ich denke, dass das Videomaterial manipuliert wurde.“
Ludmilla warf ihr einen verwunderten Blick zu und schüttelte den Kopf.
„Allerdings habe ich mit Frau …„
„Petrowa“, ergänzte Ludmilla.
„Genau. Ich habe also mit Frau Petrowa vereinbart, dass ich morgen mit ihr gemeinsam den Nachtdienst versehe und dabei einen Blick auf die Monitore werfe. Das ist Ihnen doch recht?“
Victors Blick sprach Bände. „Sind Sie nicht zu erschöpft, von den vielen Eindrücken und der Reise?“
„Das passt schon“, erwiderte Katharina gönnerhaft. „So können wir jeden Zweifel aus dem Weg räumen.“
Zähneknirschend gab Victor nach. „Wenn es denn unbedingt sein muss … aber ich stehe Ihnen für diesen Zeitraum nicht zur Verfügung.“
Er musterte sie auf eine merkwürdige Weise und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.
„Ich nehme jetzt das Abendbrot ein, möchten Sie mich begleiten?“
„Sehr gern. Mein Magen knurrt schon seit einer Weile“, gestand sie offen und folgte ihm. Hauptsache, es gab keine Kohlsuppe.
Der Tisch war bereits gedeckt, als sie Victors Büro betraten. Das Essen unterschied sich in keinster Weise von dem in Deutschland: pappiges Brot, labberige Wurst und übermäßig gesüßter Tee. Ein Anflug von Heimweh machte sich breit. Sie vermisste Minou, Maria, Tim, David und ihre Patienten. Vor allen Dingen sehnte sie sich nach einem heißen Bad und ihrem großen Doppelbett.
„Sehnsucht nach den eigenen vier Wänden?“ Erschrocken hob sie den Blick. „Sie sitzen gedankenverloren am Tisch und greifen nicht zu. Dieser Gedanke schien naheliegend.“
Im ersten Moment hatte sie tatsächlich gedacht, er könne ihre Gedanken lesen. Doch das war vollkommener Unsinn. Ihre Körpersprache hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, wonach sie sich sehnte. Trotzdem war ihr Victor auf eine gewisse Weise unheimlich. Mehr als einmal kam es ihr so vor, als ob er jedes Geheimnis von ihr wusste, dabei waren sie sich noch nie begegnet.
Nachdenklich schmierte sie sich ein Brot und trank den heißen Tee. Der elektrische Samowar summte leise vor sich hin. „Ludmilla hat mir erzählt, dass Sie auch Kinder betreuen. Dürfte ich mir diese Station ansehen?“
„Wollen Sie sich das wirklich antun?“
„Warum nicht? Ich möchte ehrlich sein, vieles ist anders als in Deutschland. Vielleicht steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen, aber mit Spendengeldern könnte man doch die eine oder andere Verbesserung erwirken. Besonders die Kinder liegen mir am Herzen.“
„Sie wünschen sich ein Kind, nicht wahr?“
Eine Hitzewelle durchflutete ihren Körper und sie kam sich völlig überrumpelt vor. Er taxierte sie erneut auf diese bestimmte Weise und sie hatte das Gefühl, völlig nackt am Tisch zu sitzen. Bildete sie sich das nur ein oder blitzte in seinen Augen eine Spur von Begehren auf?
Zwischen ihren Beinen kribbelte es gewaltig, unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. Sie starrte auf seine Hände und stellte sich vor, wie er ihr die Kleider vom Leib riss, sie packte und rittlings auf seinen Schoß setzte. Oh Gott, woher kamen nur diese unmöglichen Gedanken?
„Wenn Sie mögen, können wir uns gleich im Anschluss die Kinderstation ansehen.“
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