„Wollen wir uns nicht auf die Wiese setzen und Käfer zählen?”
Patrick traute seinen Ohren kaum. Er drehte den Kopf zur Seite und erblickte seine kleine Schwester. Natürlich hatte sie den Satz mit den Käfern gesagt, nicht der Dschungeljunge im Fernsehen. Was der Dschungeljunge gesagt hatte, das hatte Patrick jetzt nicht mitgekriegt.
„Geh raus und zähl deine Käfer alleine”, blaffte er Jessika an, „ich habe hier zu tun.”
Jessika sah zum Fernseher. „Was denn?”, fragte sie.
„Das kapierst du doch nicht.”
„Warum?”
„Weil du noch zu klein bist.”
„Ich bin gar nicht zu klein, ich weiß nur noch nicht genug”, krähte Jessika. „Aber wie viel man weiß, das hat überhaupt nichts damit zu tun, wie groß man ist. Es hat was damit zu tun, was einem andere Leute verraten!”
Patrick sehnte den Tag herbei, an dem Jessika endlich eingeschult werden würde. Dann konnte sie ihren Lehrern Löcher in den Bauch fragen.
„Frag Vati. Ich bin nicht für deine Erziehung zuständig.”
„Vati ist mit seinem Rennrad unterwegs. Heute ist doch Sonntag”, informierte ihn Jessika.
„Dann frag Mama.”
Jessika zog ihren Mund zu einer Schnute. „Ich glaube, Mama versteht nichts davon.”
Da hatte seine Schwester zweifellos recht. Mama war ein hoffnungsloser Fall. Oh, Jessika und Patrick liebten sie beide, denn sie hatte als Mama unbedingt ihre Qualitäten, doch leider herrschte bei ihr eine erschreckende Unkenntnis, was Fernsehsendungen im Allgemeinen und Dinosaurier im Besonderen betraf. Dass Jessika ihn als Fachmann in solchen Fragen betrachtete, schmeichelte Patrick; so ließ er sich gnädig zu einer kurzen Antwort herab: „Die drei Dschungeljungs bekämpfen einen Dinosaurier. Ich muss aufpassen, ob sie alles richtig machen.” Er konzentrierte sich wieder aufs Programm, aber Jessika ließ nicht locker.
„Warum bekämpfen sie ihn?”
„Weil er eine Expedition angegriffen hat.”
„Warum?”
„Weil er böse ist.”
„Warum?”
„Weil er eine kleine Schwester hat, die ihm dauernd dumme Fragen stellt!”
Jessika biss sich auf die Unterlippe. Sie war sichtlich eingeschüchtert und traute sich nichts mehr zu fragen. Eine Weile guckte sie zu, wie die Dschungeljungs auf den Dinosaurier eindroschen. Dr. Katz unterbrach seine Fellpflege, stolzierte zu Jessika und rieb sich an ihren Beinen. Jessika bückte sich und streichelte den Kater hinter den Ohren, dann den gestreckten Rücken entlang. Der Kater schnurrte. Jessika strich mit einem Finger über Kinn und Kehle und Dr. Katz schloss genießerisch die bebrillten Augen. Unvermittelt ließ er sich zu Boden plumpsen und präsentierte seine Bauchpartie mit dem besonders flauschigen weißen Fell. Jessika begann sogleich mit sanftem Streicheln. „Tiere mögen es, wenn man freundlich zu ihnen ist”, belehrte sie ihren Bruder. „Dann vertrauen sie einem und lassen sich sogar den Bauch kraulen.” Sie schaute wieder zum Fernseher.
„Mir tut der Dinosaurier leid”, erklärte sie.
Patrick verdrehte die Augen. Jessika taten immer alle Tiere leid. Sie verstand nicht, dass so ein Dinosaurier kein gewöhnliches Tier war, sondern ein Ungeheuer, dass man bekämpfen musste. Seine Schwester war eben noch fast ein Baby. Sie hatte keine Ahnung vom wirklichen Leben.
Jetzt plapperte sie schon wieder etwas. „Warum schaltest du nicht ein Programm ohne Dinosaurier ein?”
„Ich bin froh, dass ich eins mit Dinosaurier gefunden habe.”
Jessikas Augen blitzten auf. „Vielleicht gibt es irgendwo einen Märchenfilm!” Sie grapschte die Fernbedienung und drückte ein paar Programmtasten. Die Bilder auf dem Bildschirm wirbelten durcheinander, als führen die Dschungeljungs mit den Robotern im Wilden Westen Achterbahn.
„Finger weg! Das ist doch kein Spielzeug für Mädchen!” Patrick riss Jessika die Fernbedienung aus der Hand.
Jessika schmollte. „Warum können wir denn keinen Märchenfilm sehen?”
„Frag nicht immer ,warum’!”
Jessika überlegte kurz. Dann fragte sie: „Warum nicht?”, wobei sie das „nicht“ besonders betonte, um hervorzuheben, dass es sich keineswegs um eine Warum-Frage, sondern um das genaue Gegenteil handelte.
„Weil ich es nicht will.”
„Und warum nicht?”
Patrick, der sich bemühte, die Dschungeljungs wiederzufinden, verlor den Gesprächsfaden. „Warum was nicht?”
„Warum sollten wir …?” Jessika unterbrach sich, um an ihrer Formulierung zu feilen. „Warum nicht sollten wir einen Märchenfilm anschauen?” Sie war zufrieden, denn ihr Satz war zwar etwas holprig, enthielt aber alles, was sie vorbringen wollte und war durch das „nicht” wieder das Gegenteil einer Warum-Frage. Prima, dachte Jessika, wie man durch ein so kleines Wort alles ins Gegenteil verkehren kann! Sie beschloss sich diese Methode für die nächsten Auseinandersetzungen wie etwa um Plätzchenessen vor dem Schlafengehen zu merken.
Als Patrick ihr nichts antwortete, trumpfte sie nochmals auf: „Also, bitte schön, warum nicht?”
Das entscheidende Wort hing, wie Jessika fand, triumphierend in der Luft, doch ihr Bruder erwiderte nichts, was Jessika zufriedengestellt hätte.
Patrick brummte nämlich bloß: „Märchen sind blöd.”
„Gar nicht!”, protestierte Jessika. „In Märchen gibt es Prinzessinnen in schönen Kleidern!”
„Na eben. Prinzessinnen sind auch blöd. Und Kleider erst recht.”
„Gar nicht!”
„Und ob! Wer braucht schon eine Prinzessin?”
„Die Prinzen natürlich!” Jessika reckte ihre Nase in die Höhe. „Das weiß doch jeder: Am Schluss vom Märchen heiratet der Prinz die Prinzessin.”
„Heiraten ist blöd.”
„Gar nicht! Und dann küssen sie sich!”
„Und das ist das Blödeste überhaupt!”
„Gar nicht!”
„Doch!”
„Und warum wohl?”
Patrick setzte eine weise Miene auf und sagte: „Komm du erst mal in die Schule, dann wirst du schlauer.”
„Aha”, krähte Jessika, „wenn du keine Anwort weißt, dann schiebst du immer alles auf diese komische Schule! Nur weil du da schon hingehen darfst und ich nicht!”
„Jessika”, versuchte er zu beruhigen, „du verstehst überhaupt noch nichts vom Ernst des Lebens.” Die Redewendung hatte er sich gemerkt; Chefinspektor Hopkins wandte sie bisweilen an.
Jessika schniefte. „Na und? Wenn ich nicht weiter weiß, dann spreche ich mit den Bäumen. Bäume wissen alles, weil sie so alt sind. Bäume sind die besten Lehrer, die man sich wünschen kann!”
„Dann schicken wir dich am besten in eine Baumschule!”
Die Mutter schaute ins Zimmer. Die lauten Stimmen hatten sie angelockt, aber dann erkannte sie, dass es vorerst keinen Grund zum Eingreifen gab.
„Gebt mir bitte Bescheid, sobald ihr beschlossen habt, euch zu hauen”, sagte sie und zog sich wieder in die Küche zurück.
Aber Jessika war die Lust vergangen, sich mit ihrem Bruder herumzustreiten. „Ich gehe draußen Käfer zählen”, verkündete sie und lief zur Zimmertür. Dort fiel ihr noch etwas ein und sie drehte sich wieder um. „In Märchen gibt es auch Feen und die können zaubern und von denen kriegt man drei Wünsche erfüllt!”
Patrick sah sie nicht einmal an. „Feen sind total blöd”, war das Einzige, was er von sich gab.
Jessika stand noch einen Augenblick in der Tür. „Soll ich ein paar Käfer für dich mitzählen?”
„Ja, danke”, entgegnete Patrick, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ.
„Aber nicht zu viele, sonst bleiben für mich ja keine übrig. Also gut, einen Käfer werde ich für dich zählen, einverstanden?” Ohne eine Antwort abzuwarten, hüpfte Jessika hinaus. Dr. Katz starrte ihr hinterher.
Patrick stand auf und schloss die Tür, damit das Zimmer nicht zu einladend wirkte. Dann lümmelte er sich rasch wieder im Sessel zurecht. Das Abenteuer der Dschungeljungs war jetzt natürlich zu Ende, aber Patrick war überzeugt, dass sie wie üblich gesiegt hatten. Er drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Das Programm wechselte und Patrick bekam neue unglaubliche Bilder präsentiert.
Читать дальше