Nur langsam erwachte Kyl zu neuem Leben. Von irgendwoher drang das warnende Geräusch einer Leprosenklapper durch die Gassen - dort bewegte sich ein Aussätziger, ein Feldsieche, wie sie vor jedem Stadttor zu finden waren.
Vor den Toren Kyls lag die St. Jürgenskapelle, mit dem Haus der elenden Siechen. Auf dem Feld davor Planen und grob gezimmerte Holzhütten: Die Unterkunft der Leprösen. Hinrich bekreuzigte sich dreimal und fing an zu laufen.
Im Dämmerlicht des heranbrechenden Tages erkannte Hinrich noch, wie der Sieche in seiner Tracht über die Brücke aus Kyl verschwand. Gedankenverloren verfolgte er das hölzerne Klappern. Die Warnung hallte durch die morgendlichen Gassen. Plötzlich stand einer vor ihm: Weiße Joppe, weißer langer Siechenmantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, weiße Handschuhe.
Hinrich schrie, sprang zurück und stolperte. Er lief los, als der Sieche ihm das Bettelbrett hinhielt. Hinrich rannte. Das wilde Klappern begleitete seine Schritte. Erst an der Nikolaikirche drehte er sich um. Der Sieche war verschwunden. Nur das Klappern zeugte noch von seinem Leben und Leiden. Allmählich verstummte auch dies.
Hinrich zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum beruhigen.
„Was ist denn mit Euch los?“
Wieder sprang Hinrich voller Furcht einige Schritte zurück, doch dann erkannte er die Stimme seines Freundes. „Seid Ihr dem Leibhaftigen begegnet?“
„Nein“, hechelte Hinrich. „Aber die ganze Stadt ist voller Lepröser.“
„Kommt herein und erholt Euch.“ Der Probst fasste Hinrich am Ellenbogen und führte den zitternden Schreiber in die Sakristei. Dort standen schon Brot und Bier auf dem Tisch. „In den Tagen nach der Rathserneuerung ist es ihnen erlaubt in die Stadt zu kommen, um zu betteln. Die Bürger legen allerlei Essen und Trinken vor die Türen, aber bei Sonnenaufgang müssen die Siechen aus der Stadt verschwunden sein“, erklärte der Probst. Dabei reichte er Hinrich einen Napf und einen Fladen. Beide griffen mit den Händen in den Brei und aßen. Dann lehnten sie sich satt zurück. Der Probst trug seine weiße Kutte und den schwarzen Mantel. Er stieß zufrieden auf und wischte seine Hände am Umhang ab. Danach nahm er noch einen Schluck aus dem mit Molke gefüllten Krug.
„Wir haben zweimal im Jahr eine Lepraschau“, erklärte der Probst. „Einmal im Frühjahr und einmal im Herbst. Wenn sich ein Verdacht ergibt, auch öfter. Die Lepraschau findet immer zwölf Tage vor Rathserneuerung statt. Der Besuch der Leprösen in der Stadt gibt ihnen die Gelegenheit, für den neuen Aussatz weitere Nahrung zu besorgen.“
„Wer versorgt sie in den vielen Tagen dazwischen?“
„Es gibt immer brave Leute, die etwas geben. Auch Wanderer, Kaufleute, die in die Stadt wollen und an der Kapelle vorbeikommen. Alle geben in den Armenblock.“
„Ich danke für Speis und Trank.“ Hinrich stand auf.
„Wartet noch“, der Probst hielt Hinrich fest. "Auch wenn ich weiß, dass Ihr heute im Rathhaus erwartet werdet. Wir hatten wenig gemeinsame Zeit.“
„Ja, der alte Schreiber möchte mich in die Bücher der Stadt einweisen.“
„Was habt Ihr denn schon mit dem Vysch besprochen?“
„Nicht viel. Belangloses. Von dem Gespräch im Rathskeller habe ich Euch berichtet.“
„Schon gut. Denkt an meine Worte“, erst jetzt ließ der Probst den Ärmel los. „Schlaft ihr gut bei Merten?“
„Nicht so sehr. Ich habe von dort öfter das Treiben vor der Badestube betrachtet.“
„Ja?“
„Ja, mitten in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Aber das ist nicht so wichtig.“
„Nein“, unterbrach ihn der Probst. „Was habt ihr denn da so gesehen?“ Dabei nahm er noch einen kräftigen Schluck aus dem Krug und blinzelte über den Rand.
„Ich fand das Treiben auf der Strate sehr interessant.“ Hinrich nahm seinen Wollmantel. „Wer da so alles ein- und ausgeht.“
„Ja, ja, das sündige Fleisch. Habt Ihr auch den Altschröder Jochen gesehen?“
„Jochen?“
„Ja, Ihr habt ihn im Rathskeller kennengelernt. Als Ihr beim alten Vysch am Tisch ward. Er stand eine Weile bei mir. Der Probst pulte an einer Wachslichte.
„Kann ich nicht genau sagen. Ich werde in der Schreibstube erwartet. Vielleicht fällt es mir noch ein.“
„Ist auch nicht wichtig. Aber denkt an meine Worte.“
„Ich habe sie nicht vergessen“, rief Hinrich im Gehen.
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