Menschen über Menschen tummelten sich in den Straßen und Gassen, sprangen unserem Wagen aus dem Weg, schauten aus den Fenstern ihrer Häuser und riefen sich einander zu. Bekannte trafen sich zufällig, plauderten ein wenig und zogen dann wieder ihrer Wege. In der Ferne hörte ich Metall auf Metall schlagen und dachte sofort, dass diese Klänge nur von einem Ort stammen konnten: der Schmiede. Es war herrlich, dieses bunte Treiben zu sehen, und ich staunte, wie lebhaft es immer noch war, obwohl der Abend bereits angebrochen war. Ich beobachtete gerade einen Töpfer und dessen Lehrling, wie dieser von seinem Meister gescholten wurde, weil er Ware zerbrochen hatte, als ich meinen Vater reden hörte. Ich dachte, er hätte mich gemeint. Doch als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, dass er sich mit einem Einheimischen unterhielt, der ihm die Wegbeschreibung zum Wirtshaus gab. Mein Vater nickte und lenkte den Wagen in die angegebene Richtung. Der Töpfer verpasste seinem Lehrling eine schallende Ohrfeige. Dann bogen wir um eine Ecke und die beiden verschwanden aus meinem Blickfeld.
Wenig später saßen wir an einem runden Tisch, dessen Oberfläche klebrig und krümelig war, in Loudéacs einzigem Wirtshaus. Wären die Umstände anders gewesen, hätte mein Vater darauf verzichtet, mich in ein solches Etablissement zu bringen. Doch wir brauchten eine Unterkunft für die Nacht und etwas zu essen. Da war es zweitrangig, dass in dem Wirtshaus Männer Spiele mit Messern spielten, andere sich prügelten, ohne dass jemand dazwischen ging, und Frauen mit wilden Haaren und wenig Stoff am Körper sich über Tische hinweg legten, um den Männern schöne Augen zu machen. Ich sah auch erstaunt zu, wie sich einige der Damen auf die Schöße von betrunkenen Kerlen setzten und diese lachend ihr Gesicht im Busen der Frauen vergruben, die dies auch noch lustig fanden.
„Ist das hier auch heiliger Boden , der uns vor der Nacht beschützt?“, fragte ich leichtsinnigerweise meinen Vater. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen. Nicht, wenn er die entblößten Beinen einer blonden Frau begaffte, obwohl meine Mutter noch nicht einmal eine Woche tot war. Hatte er sie etwa bereits vergessen?
Mein Vater löste den Blick von der blonden Frau und sah mich grimmig an. Er hob seinen Arm und ließ ihn vorschnellen – direkt auf mich zu. Abwehrend hielt ich meinen Arm vor mein Gesicht und wich zurück. Als der Schlag nicht kam, entspannte ich mich wieder auf meinem Stuhl und ließ den Arm sinken. „Wo ist dein Mut plötzlich hin? Zuckst vor mir zurück wie ein kleines Mädchen. Wenn du mir etwas sagen willst, dann tue es gefälligst geradeheraus“, grummelte er und schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund, den er bestellt hatte. Die Suppe lief ihm aus den Mundwinkeln, rann ihm über das Kinn und tropfte auf sein Hemd. Er wischte sich mit dem Handrücken die Flüssigkeit ab und trocknete ihn an seiner Hose. Während er sich vollstopfte, hatte ich nur zwei Löffel von dem Eintopf herunterbekommen, an dessen Oberfläche große Fettaugen schwammen und aus dem mich etwas anblickte, das aussah wie Regenwürmer oder gar Rattenschwänze.
„Wie kommst du darauf, dass ich ein Dämon bin?“, fragte ich meinen Vater unverblümt, so wie er es verlangt hatte.
Er tunkte ein Stück Brot in sein Essen, wartete, bis es sich vollgesogen hatte und legte es sich auf die Zunge. Langsam schloss er den Mund und kaute genüsslich darauf herum. Noch während er mit seinen Zähnen das Brot zerkleinerte, beantwortete er mir meine Frage. „Ich brauche dich nur anzusehen“, er richtete seine Augen auf mich, „und weiß, dass es so ist. Alles an dir schreit nach Verderbtheit.“ Ich schluckte schwer bei diesen Worten. Ich sah meiner Mutter sehr ähnlich, aber in ihr hatte er nie einen Dämon gesehen. Was war so anders an mir? Traurig sah ich auf meinen Teller hinunter. Eine Blase stieg vom Boden an die Oberfläche auf und zerplatzte. Es hätte nicht noch eines weiteren Zeichens bedurft, um zu wissen, dass dieses Essen ungenießbar war. Die Gesellschaft tat ihr Übriges. Ich schob den Eintopf von mir und streckte die Hand nach dem letzten Stück Brot aus, das auf einem Teller in der Mitte des Tisches lag. Meine Fingerspitzen berührten es bereits, als mir mein Vater das Stück vor der Nase wegschnappte. „Du wirst bald weitaus weniger als das zwischen die Zähne bekommen. Gewöhne dich am besten schon jetzt daran“, meinte er, wischte mit dem Brot seinen Teller ab und verschlang es mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
„Stimmt es? Fahren wir nach Guingamp?“, fragte ich ihn.
„Pah!“, rief er aus. „Glaubst du wirklich, ich hätte dem Trottel unseren Weg verraten? Wir reisen nicht nach Guingamp“, teilte er mir mit. Auch wenn es mich schmerzte, aber ich glaubte, das war das erste Mal seit unserem Aufbruch, dass mein Vater die Wahrheit sagte.
„Und wohin fahren wir dann?“
„Das wirst du früh genug erfahren. Isst du das noch?“, fragte er mich und deutete auf meinen vollen Teller. Ich schüttelte den Kopf und schob angewidert den Eintopf zu ihm hinüber. Wie konnte er diesen Fraß nur essen? „Wenn ich fertig bin, gehen wir schlafen. Ich habe dem Wirt eine Münze mehr bezahlt, damit er uns morgen früh weckt. Wir brechen bei Tagesanbruch auf“, verkündete er. „Am Abend werden wir an unser Ziel gelangen und du…“ Er ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, aber ich wusste, was er sagen wollte: Ich würde in mein neues Heim kommen und weggesperrt werden. Er würde mich endlich los sein.
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