1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Mein Vater drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich an. Dann blickte er auf die Kienspäne in seinen Händen hinunter und dann zu Maman ins Haus. Woran dachte er? Was hatte er nur vor? Sein Verhalten kam mir merkwürdig vor. Was auch immer in seinem Kopf vor sich ging, die Entscheidung war gefallen. Entschlossen ging er ins Haus und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich hörte, wie er darin umherpolterte. Langsam tat ich ein paar Schritte vorwärts. Meine Neugierde, was mein Vater trieb, wurde mit jedem Augenblick größer. Doch auch etwas anderes mischte sich darunter. Zuerst konnte ich es nicht zuordnen, doch dann begriff ich, dass es Sorge war. Sorge darum, dass er etwas tat, was nicht wieder rückgängig zu machen wäre. Diese Sorge ließ mich schneller laufen. Ich merkte kaum meinen pochenden Schädel oder die Übelkeit. Ein neuer Adrenalinschub schwächte die Beschwerden ab und ermöglichte es mir, rasch zur Haustür zu gelangen. Mein rechter Fuß setzte auf die Türschwelle auf. Ich zog den anderen Fuß gerade hinterher, als sich mir mein Vater in den Weg stellte und mich am Eintreten hinderte. Ich konnte nicht durch; ich konnte nicht sehen. Aber ich hörte und roch etwas. Geräusche drangen an meine Ohren. Es knackte und knisterte wie das Feuer in unserer Kochstelle. Es roch nach Verbranntem. Was genau da am Schmurgeln war, wusste ich nicht genau. Es waren viele verschiedene Gerüche, die sich miteinander vermischten. Ich strengte mich an, sie zu identifizieren. Ich erkannte den Geruch von brennendem Holz und Fleisch. Er erinnerte mich an den Geruch von brutzelndem Schweinefleisch. Aber dann bemerkte ich, dass der Duft zu stark war. Er war beißend. Er war bestialisch, sodass mir schlecht wurde. Meine Augen wurden größer. Ich sah zu meinem Vater auf. Finster blickte er zurück. Er legte eine Hand auf meine Schulter und schob mich zurück, weg von der Tür. Ohne Gegenwehr ließ ich mich von ihm herummanövrieren. Sobald wir einige Schritte von dem Haus entfernt waren, quoll eine schwarze Rauchwolke aus der Tür. Hinter dem Rücken meines Vaters wuchs sie an und stieg zum Himmel empor. Es kam mir vor, als hätte allein seine Präsenz dafür gesorgt, dass die Wolke in dem Haus geblieben war und sich erst hervorgewagt hatte, nachdem er gewichen war. Es war ein unheimlicher, ein unnatürlicher Anblick und Moment, und ich stellte mir die Frage, ob es möglich war, dass nicht nur in mir, wie mein Vater dachte, ein Dämon wohnte, sondern auch in ihm? Vielleicht hatte er ihn an mich vererbt und nur besser gewusst, wie man ihn vor anderen verbirgt? Auf mich wirkte er in jenem Moment wie der Herrscher über Feuer und Rauch.
Mein Mund klappte vor Entsetzen auf. Ein dummer Fehler, denn sofort suchte sich der Qualm einen Weg in meine Atemwege und brachte mich zum Husten. Unsanft schloss sich die Hand meines Vaters um meinen Oberarm und er schob mich vor sich her. Immer noch hustend ließ ich es geschehen, dass er mehr Abstand zwischen mich und das brennende Haus brachte. Wir mussten eine größere Entfernung hinter uns bringen, bevor die Luft etwas besser wurde und ich freier atmen konnte. Als wir mitten in unserem Feld standen, das unserem Haus gegenüberlag, ließ mein Vater von mir ab. Ich trabte noch ein paar Schritte weiter, bis mir auffiel, dass er nicht nach mir rief und verlangte, ich solle zu ihm zurückkehren. Ich blieb stehen und schaute mich nach ihm um. Unweit von mir stand er zwischen Ähre und Korn und blickte auf sein geschaffenes Werk: sein Haus, das vom Feuer fast gänzlich umschlossen war.
Er hat unser Zuhause in Brand gesetzt , schoss es mir durch den Kopf. Ich begriff erst jetzt wirklich, was er getan hatte. Wieso hat er das gemacht? fragte ich mich.
***
Überlegen Sie und ich doch zusammen. Wozu ist Feuer da? Was macht es? Jede Sache hat zwei Seiten: eine helle und eine dunkle. Feuer wärmt uns, wenn uns kalt ist. Es spendet uns Licht und versorgt uns mit warmen Speisen. Soweit die gute, helle Seite. Doch betrachten wir die andere, die dunkle Seite dieses Elements. Feuer zerstört. Es vernichtet beinahe alles, was sich ihm in den Weg stellt, und brennt ganze Dörfer nieder und reißt Brücken ein. Und genau das war es, was mein Vater tat: Er riss eine Brücke ein, eine Brücke zu unserem alten Leben. Er hatte mir gesagt, er wolle mit mir irgendwo anders von vorn anfangen. Unser Haus in Brand zu stecken, war seine Art, das, was geschehen war, hinter sich zu lassen. Diese Tat hatte etwas Endgültiges. Er hatte nicht vor, jemals wieder hierher zurückzukehren. Nicht an diesen Ort, nicht zu den Erinnerungen, die an ihm hingen, und nicht zu Maman .
***
Bei dem Gedanken an sie erstarrte ich. Sie ist noch da drin! Er hat sie ebenfalls angezündet. Sie steht wie das Haus in Flammen , dachte ich. Und das war auch der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch gewesen, der mir zuvor aufgefallen war. Fassungslos sah ich meinen Vater an, dessen Rücken mir zugewandt war. Wie konnte jemand nur so grausam sein und seine eigene Frau verbrennen? Sie hätte eine angemessene Bestattung verdient, ein Grab mit einem Kreuz, auf dem ihr Name steht, und Blumen. Stattdessen bekam sie Rauch und Asche. Tränen stiegen mir vor Verzweiflung in die Augen. Ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht, um es zu trocknen. Lautstark zog ich die Nase hoch. Mein Vater hörte es und drehte sich zu mir herum. Als sich unsere Blicke begegneten, traf mich die Verachtung, die in seinen Augen stand, wie ein Schlag. Ich wagte nicht, mich zu rühren oder einen weiteren Ton von mir zu geben. Ich spürte, wie mir der Rotz aus der Nase lief und zu meinem Mund wanderte. Ich wollte ihn wegwischen, traute mich aber nicht.
„Hör auf zu flennen! Reiß dich gefälligst zusammen!“, fuhr er mich an. Dann kehrte er mir wieder den Rücken zu und sagte: „Und sieh mich nicht an, als wäre all das meine Schuld. Ich sagte dir, du bist der Mann im Haus. Du hast in dieser Aufgabe versagt. Ich habe nichts anderes von dir erwartet. Du bist nicht mein Sohn. Du entstammst der Hölle.“ Über seine Schulter hinweg sah er zu mir nach hinten. „Schau dich nur an. Selbst jetzt versuchst du, mich zu behexen und zu verfluchen. Aber ich kenne dich. Ich bin wachsam und auf der Hut vor dir.“
Wirklich? Dann wollen wir doch mal sehen, wie wachsam du bist , dachte ich und rannte los.
So schnell ich konnte lief ich an ihm vorbei und jagte aus dem Feld heraus.
„Wo willst du hin? Komm zurück! Ich bin noch nicht fertig mit dir, Dämon!“, rief mein Vater mir nach. Seine Schritte, als er mir nachlief, donnerten über den harten, trockenen Boden. Ich hörte sein angestrengtes Schnaufen. Es kam näher und näher. Aber dieses eine Mal war ich schneller als er. Ich erreichte mein Ziel als Erster und sprang entschlossen durch die Tür in unser brennendes Haus. Sobald ich die Schwelle übertreten hatte, stieg mir der schwarze Qualm in die Augen, brachte sie zum Tränen und kroch in meine Nase. Ich fing an zu husten. Schützend hielt ich mir die Hand vor Mund und Nase und sah mich um. Die Sicht war eingeschränkt – über allem lag Rauch und in jeder Ecke loderten orange Flammen. Sie fraßen sich gierig durch das Holz und hatten sogar schon den Dachboden erreicht, auf dem ich einst geschlafen hatte. Ein lautes Knacken ertönte von jener Seite des Hauses und nur einen kurzen Augenblick später stürzte der Dachboden ein und landete krachend auf dem bereits lichterloh brennenden Schlafbereich meiner Eltern. Ich wich zurück und merkte nicht, dass ich dabei war, die Hütte zu verlassen. „Michael, komm her! Wenn du glaubst, du kannst mir auf diese Weise entkommen, täuschst du dich“, schrie mein Vater.
Ich drehte mich zu ihm. Er war nicht mehr weit von mir entfernt. Was glaubte er, wieso ich mich in das Haus begeben hatte? Um darin zu verbrennen? Um Selbstmord zu begehen? Wohl kaum. Mein Glaube war der Glaube meiner Mutter. Noch vor Kurzem hatte ich gedacht, es wäre auch sein Glaube. Mittlerweile bezweifelte ich es allerdings. Der Glaube meiner Mutter jedoch verbot mir, die Wahl des Freitods zu wählen. Selbstmörder kommen nicht in den Himmel, sondern ins Reich der Finsternis und Qualen. Ich war in mein Zuhause gegangen, um zu sehen, was ich für meine Mutter tun konnte, ob ich sie aus den Flammen retten konnte, um sie gebührend zu beerdigen. Mit meinen Augen suchte ich zwischen Rauch und Feuer nach ihr. Es erwies sich als schwerer als gedacht. Ringsum loderten die Flammen, umarmten und verschlangen alles, was sie finden konnten. Die Hitze brachte die Luft zum Flirren – sie schien regelrecht lebendig zu sein. Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und strengte mich an, in dieser irdischen Hölle etwas zu erkennen. Schließlich fand ich meine Maman und musste feststellen, dass es zu spät war, viel zu spät. Ihr Körper stand vollständig in Flammen. Ihre Kleider waren verbrannt und mit ihrer Haut zu einer schwarzen Masse verschmolzen. Sie hatte keine Haare mehr, und ihr Gesicht schien sich aufgelöst zu haben. Das war das letzte Bild, das ich jemals von meiner Mutter sah.
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