„ Sacre bleu ! Was ist hier passiert?“ Mein Kopf rollte herum. Ich stöhnte leise. „Wach auf, Junge, wach auf!“ Langsam öffnete ich die Augen. Meine Sicht war getrübt, als würde ein Schleier vor meinem Gesicht hängen. Ich blinzelte ein paar Mal. Vielleicht würde es helfen, dass ich wieder klar sah. Von meiner Rechten schob sich ein großer Schatten in mein Blickfeld. Er schien über mir zu schweben. Mit einem Schlag war ich vollkommen wach und klar bei Verstand. Ich zog scharf den Atem ein, sprang auf alle viere und krabbelte so schnell ich es vermochte davon. Weg von Henry und seinen Freunden. Ich war überzeugt davon, dass sie zurückgekehrt waren und mich nun doch aus der Welt schaffen würden, damit ich sie nicht verraten konnte. „Was tust du da, du dummer Junge? Bleib gefälligst hier! Sag mir, was geschehen ist. Sofort!“ Hatte Henry denn schon vergessen, was er und die anderen getan hatten? Ich gehorchte ihm nicht, sondern krabbelte weiter ins Hintere des Hauses und bettelte die ganze Zeit, sie mögen mich verschonen. „Bitte, bitte! Ich sage niemandem etwas. Bitte, bitte. Tut mir nichts.“ Ich hatte so furchtbare Angst vor ihnen. Die Furcht schnürte meine Brust zusammen, sodass mir das Atmen schwerfiel. Sie drückte auf meine Blase und ich befürchtete, ich würde jeden Moment in die Hose machen. Eine weitere Schmach, die sich zu der des Übergebens gesellen würde. Ich hörte Henry bereits jetzt über mich lachen. „Du sollst hierbleiben, habe ich gesagt“, knurrte die Stimme hinter mir. Hände packten mich an den Schultern. Ich schrie wie am Spieß, als sie mich mühelos hochhoben und auf den Rücken drehten. Ich schloss die Augen, weil ich die grinsenden Fratzen der Männer nicht sehen wollte. Mit Händen und Füßen wehrte ich mich gegen denjenigen, der mich hielt. Ich trat und schlug um mich und schrie so laut ich konnte.
Unser Kampf dauerte einige Momente an, dann schlug mich eine Hand auf den Mund. Ich verstummte augenblicklich. Der Schmerz, verursacht durch den Schlag, trieb mir die Tränen in die Augen. Meine Zähne taten weh, und ich schmeckte Blut in meinem Mund. Ich hatte mir wohl auf die Lippe gebissen. „Hör auf damit, dich wie ein Schwachsinniger zu benehmen und sieh mich an!“, forderte man mich auf. Ich schüttelte den Kopf und sah weiterhin zur Seite. „Du sollst mich gefälligst ansehen!“ Kräftige, raue Finger umschlossen mein Kinn und drehten meinen Kopf herum. „Michael!“ Es war seltsam, meinen Namen zu hören. Ich wunderte mich so sehr darüber, woher Henry ihn kannte, dass ich endlich meinen Blick hob und in das Gesicht meines Angreifers sah. Als ich es schließlich in seiner Gänze erkannte, stockte mir der Atem. Die braun-grünen Augen, der Bart um Mund, Kinn und Wangen, die braunen Haare, die nicht so dunkel waren wie die meinen und durchzogen wurden von grauen Strähnen – ich wusste, zu wem all das gehörte.
„Papa“, hauchte ich ungläubig. Mit großen Augen betrachtete ich sein Gesicht. „Papa, bist du es wirklich?“, fragte ich. Ich fing an zu weinen. Dieses Mal jedoch vor Erleichterung. Ich war noch nie so froh darüber gewesen, ihn zu sehen wie in jenem Moment. Ich war nicht mehr allein. Ich brauchte mich nicht mehr zu fürchten. Mein Vater würde mich beschützen. Bei ihm war ich sicher. So zumindest dachte ich, aber ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Als ich mich schluchzend an seine Brust werfen und Trost bei ihm suchen wollte, packte er mich grob an den Schultern und hielt mich auf Abstand. Verwirrt sah ich ihn an. Ich hatte gehofft, in seinem Gesicht Liebe, Fürsorge und Verständnis zu finden, doch alles, was mir dort begegnete, waren Verachtung und Wut. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wieso sah er mich an, als würde er mich hassen? Dachte er, ich hätte all das angerichtet? Ich schüttelte den Kopf, zunächst zaghaft, dann immer heftiger.
„Du teuflisches Kind!“ Mein Vater spuckte die Worte förmlich aus. „Du Dämon!“ Er begann mich heftig zu schütteln. Mein Kopf wackelte vor und zurück, sodass ich schnell Kopfweh bekam.
„Nein, Papa! Ich war es nicht. Du musst mir glauben. Ich habe nichts getan. Bitte hör auf. Du tust mir weh“, flehte ich ihn an.
Abrupt ließ er mich los, erhob sich und baute sich bedrohlich vor mir auf. Vom Boden aus sah ich zu ihm hinauf. „Du hast Recht, Junge. Du hast wirklich nichts getan“, brummte er mit seiner tiefen Stimme. So tief und kalt wie sie war, so wohlklingend, sanft und lieblich war die Stimme meiner Mutter gewesen. Wenn sie gesprochen oder gar gesungen hatte, hatte ich mich geliebt und geborgen gefühlt. Worte aus ihrem Mund waren stets wie Liebkosungen gewesen. Aus dem Mund meines Vaters klang jede ausgesprochene Silbe hart und streng. „Du hast nichts getan, um das zu verhindern, um sie“, er deutete auf meine Maman , „zu retten.“
Ich blickte zu dem Leichnam hinüber. Tränen rannen mir übers Gesicht. Ich schluchzte laut auf und ließ den Kopf hängen. Rotz und Spucke liefen mir aus Nase und Mund. „Ich war es nicht, Papa. Ich war es nicht“, sagte ich immer wieder.
„Schon von Anbeginn wusste ich, dass du nichts taugst. Du warst und bist eine einzige Enttäuschung. Ich habe die dunkle Kreatur, die in dir steckt, schon am Tag deiner Geburt bemerkt. Du konntest vielleicht deine Mutter behexen, aber ich habe dich vom ersten Blick in deine Augen an durchschaut, und wäre deine Mutter nicht gewesen, ich hätte dich schon damals im Fluss ertränkt.“
Mein Kopf schnellte hoch. Entsetzt sah ich meinen Vater an. Das konnte er doch nicht ernst meinen? Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. In mir lebte kein Dämon; ich war nicht besessen und diente nicht dem Teufel. Weder damals noch heute. Wie kam er nur auf solch eine absurde Idee? Als ich aber den blanken Hass in seinen Augen sah und die Ablehnung bemerkte, die er mit jeder Faser seines Körpers auszustrahlen schien, kam in mir der Gedanke auf, er könnte nun nachholen, was er, als ich ein Baby gewesen war, versäumt hatte zu tun: mich zu ertränken.
Schiere Panik brach über mich herein. Ich blickte mich hastig um. Wo sollte ich hin? Was sollte ich tun? Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich legte eine Hand darauf, um es davon abzuhalten, herauszuspringen. Meine Atmung wurde schneller. Ich schnaufte, als wäre ich eben erst lange Zeit gerannt. Mir wurde heiß. Ich spürte den Schweiß auf meinem Rücken und wie er an ihm hinunterlief. Guter Gott, hilf mir , dachte ich und schloss die Augen. Ich hoffte darauf, dass Er wusste, was zu tun war, denn ich war ratlos.
„Ich habe genug“, murmelte mein Vater.
Ich schlug die Augen auf und sah ihn ängstlich an. Manch einer mag in diesen wenigen Worten nicht viel lesen können, doch ich ahnte tief in meinem Innern, was ihre Bedeutung war. Er würde es tun. Er würde es wirklich tun. Jetzt. Als sein Arm plötzlich nach vorn schnellte und seine Finger nach mir grabschten, bestätigte das nur meine Vermutung. Ich dachte nicht mehr darüber nach, was ich tun sollte. Ich handelte einfach. Geschwind wie ein Kaninchen, das durch den Wald flitzt, duckte ich mich unter der Hand meines Vaters hinweg und rannte an ihm vorbei zur Tür des Hauses. Ich drehte mich herum und verließ rückwärtsgehend mein Zuhause. Während ich schon auf der Flucht war, umklammerte die Hand meines Vaters immer noch die Luft an der Stelle, wo ich zuvor gestanden hatte. Ich mochte zwar nicht der beste Arbeiter auf dem Hof sein, dafür aber war ich flink und wendig. Als mein Vater schließlich begriff, was geschehen war, wirbelte er herum und starrte mich mit großen, wilden Augen an. Er presste die Zähne fest aufeinander. Ein Grummeln kam tief aus seiner Kehle. Es klang wie das Knurren eines wütenden Wolfes. Ich musste schleunigst von hier wegkommen. Wohin? Das war egal. Hauptsache fort von ihm. Ich wandte mich um und lief los. Die Jagd hatte begonnen.
Читать дальше