Als ich schließlich zu einem Entschluss gelangt war, was ich tun und wer ich sein wollte, war es bereits zu spät. Der Kampf in unserem Haus war vorüber. Ruhe war wieder eingekehrt.
„Hat man dir nicht beigebracht, wie man es richtig macht? Du Trottel! Du hättest einen ordentlichen Spaß mit ihr gehabt. Wir alle hätten das!“, sagte eine mir unbekannte Stimme. Ein vierter Mann!
„Ich habe sie nur etwas geschüttelt, mehr nicht“, verteidigte sich der Erste.
„ Etwas geschüttelt ? Deine Hände um ihren Hals zu legen und zuzudrücken, bis sie sich nicht mehr rührt, nennst du also etwas geschüttelt ? Du bist noch kränker, als ich gedacht habe“, sagte die Stimme, die ich als zweites vernommen hatte und mir beschrieb, was soeben geschehen war: Meine Mutter war tot, ermordet von diesen Kretins!
Wie versteinert kauerte ich in dem Loch und starrte vor mich hin. Ich blinzelte nicht, rührte mich nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich in jenen Momenten überhaupt atmete. Meine Maman war tot. Nie wieder würde ich ihr Lächeln sehen, nie wieder ihre Stimme hören, die auf so besondere, zärtliche Weise meinen Namen aussprechen konnte, dass ich mich liebkost von ihr fühlte, beinahe so, als würden ihre Hände mich berühren. Nie wieder würden wir uns im Bach gegenseitig mit Wasser bespritzen, umherspringen und uns drehen, lachen und singen, wenn wir für uns waren. Nie wieder würde sie mich trösten und sich um mich kümmern, wenn es mir elend ging.
Ein verzweifelter Schluchzer kroch meine Kehle hinauf. Doch dann hörte ich die widerlichen Kerle in unserem Haus reden. Sie waren immer noch da. Ich biss die Zähne fest aufeinander und presste die Lippen zusammen, damit meine Trauer nicht aus mir entwich. Ich lauschte den Stimmen, die über mir sprachen.
„Sie war sowieso ein hässlicher Bauerntrampel.“
„Wahrscheinlich hättest du gar keinen hochgekriegt. Du hast ja ohnehin Probleme damit.“
„Du dreckiger Lügner! Du wirst schon sehen, ob oder ob nicht ich ihn hochkriege, wenn ich mich heute Nacht neben dich lege!“
Ich wusste nicht, was dieses Gerede sollte. Jahre mussten vergehen, bis ich selbst in der Welt umherstreifte und aus nächster Nähe Gewalt und Unrecht mit ansah und lernte, was sie meiner Mutter hatten antun wollen. Doch ich greife der Erzählung abermals zuvor.
Damals verstand ich vielleicht nicht jedes Wort, das sie von sich gaben. Was ich aber wohl verstand, war hässlich, und für mich war dies eine monumentale Beleidigung! Nicht nur, dass sie sich an ihr vergriffen hatten. Nun zogen sie auch noch über sie her! Hässlich? Meine Mutter? Sie war ein leuchtender Engel, eine strahlende Göttin. Dieser Affront machte mich unfassbar wütend, sodass ich am ganzen Leib zitterte. Ich hatte das Gefühl, das ganze Haus zum Beben zu bringen, und ich befürchtete, jeden Augenblick zu platzen. Mein Zorn pulsierte in meinen Ohren und ließ mich fast die sich entfernenden Stimmen überhören. Als ich es schließlich bemerkte, mahnte ich mich zur Konzentration und versuchte, nur auf die Männer zu achten, die redend und lachend immer mehr Abstand zwischen sich und das Haus brachten. Ich hörte weitere Beleidigungen heraus, die sich auf meine Maman bezogen, auf ihre einfache Kleidung und ihr langes braunes Haar, das allem Anschein nach bei ihrem Kampf gegen ihre Angreifer durcheinander geraten war. Eine neue Welle des Zorns überkam mich. Sie brannte unter meiner Haut; mir wurde unendlich heiß davon. Das Gefühl schwoll weiter an. Das Wenige, das ich in dem dunklen Versteck sehen konnte, begann zu flimmern wie die Luft über einem Feuer, mit dem Unterschied, dass ich dieses Feuer war. Feuer kann man mit Wasser löschen; man kann es mit Sand und Erde ersticken. Aber was man mit Feuer nicht tun kann, ist, es einzusperren.
Mit meinen Händen und Schultern und meinem Kopf stemmte ich mich gegen die Bretter über mir. Ich drückte so fest ich konnte. Es knackte und knirschte. Ob es das Holz war, das protestierte, oder meine Knochen, vermochte ich nicht mit Gewissheit zu sagen. Ich ließ mich davon nicht aufhalten, sondern drückte nur noch stärker dagegen. Woher die Kraft kam, mit der ich mich aus dem Loch befreite, weiß ich nicht.
***
Heutzutage weiß man, dass der Körper in Stresssituationen, bei Angst und Verzweiflung und Wut Adrenalin in Massen ausschüttet, was dazu führen kann, dass man übermenschliche Kräfte entwickelt. Vielleicht war es bei mir damals dasselbe.
***
Was auch immer es war, das mir half - die Bretter gaben nach. Sie barsten und das Feuer war frei.
Ich zwängte mich durch die schmale Öffnung, kletterte aus dem Loch und stellte fest, dass meine Mutter den Tisch, an dem wir gemeinsam gegessen, gelacht und geredet hatten, zur Tarnung meines Verstecks wieder darüber gestellt hatte. Auf allen vieren krabbelte ich unter dem Möbelstück hervor. Meine Hände fassten dabei in zerbrochene Eier, deren Inhalt sich zähfließend über den Boden verteilte und mit der Milch vermischte, die wir am Morgen beim Melken gewonnen hatten. Ich spürte die Scherben von zerschlagenen Krügen und Schalen unter meinen Handinnenflächen. Sie stachen mir ins Fleisch und rissen meine Haut auf. Der Schmerz war groß, doch das Feuer in mir brannte heißer und überlagerte ihn. Mit jedem Aufstützen meiner Hände und Knie gelangte ich weiter vorwärts, kroch durch zertretene Quitten und Äpfel. Meine Haut und Kleider waren über und über von allem Möglichen verschmutzt. Es tat mir furchtbar leid. Meine Maman hatte diese Sachen schließlich geschaffen, sowohl die Hose und das Hemd als auch mich selbst. Doch ich konnte nichts dafür. Was sollte ich machen? Flüssiges, Matschiges und Zerquetschtes lag überall vor, neben und hinter mir. Vergib mir, Maman, dachte ich, als ich endlich aufstehen konnte und mir die Hände an einer trockenen Stelle meiner Hose abwischte. Die Bewegung tat weh. Ich zog scharf den Atem ein und verzog das Gesicht. Ich besah mir die Innenflächen meiner Hände. Etliche Splitter von Eierschalen steckten in ihnen wie kleine weiße Nadeln. Ich zog sie flink heraus und ließ sie zu Boden fallen. Als ich mich von ihnen befreit hatte, leuchteten rote Löcher, Schnitte und Kratzer in meiner Haut auf. Die Verletzungen zogen sich über die gesamte Länge und Breite und reichten bis zu meinen Handgelenken hinunter. Meine Maman wüsste sicher, was zu tun wäre, schoss es mir durch den Kopf. Bei dem Gedanken an sie erstarrte ich. „ Maman “, hauchte ich und drehte mich langsam um. Meine Augen wanderten über das Chaos in unserem Haus: umgestoßene Stühle, zerrissenes Bettzeug, zertrampeltes Gemüse und Maman , die auf dem Boden lag. „ Maman ?“, fragte ich und wartete einen Moment, um ihr etwas Zeit zu geben, auf mich zu reagieren. Mein Herz konnte und wollte es nicht glauben, dass sie tot war. Als sie sich auf mein Rufen hin nicht rührte, tat ich einen Schritt auf sie zu und dann noch einen und noch einen. Als ich neben ihr stand, sank ich auf die Knie. Unsicher betrachtete ich sie von oben bis unten. Ihr Kleid war an ihren Beinen nach oben gerutscht. Ich zog den Stoff wieder herunter, weil ich dachte, sie würde frieren. Dies war nur eine kleine Geste, die ich für sie tun konnte, ebenso wie das Zurücklegen ihrer Haare, die ihr über das Gesicht gefallen waren. Doch für den oberen Bereich ihres Kleides konnte ich nichts tun. Der Stoff war, genau wie der des Unterkleides, zerrissen. Ich versuchte die Fetzen wenigstens ein bisschen zu ordnen und sie damit zu bedecken, aber es war zwecklos, und somit ließ ich von dieser Aufgabe ab. Von dem Kleid wanderten meine Blicke zu ihrem Hals. Auf ihrer olivfarbenen Haut waren dunkle Male zu sehen. Für jemanden, der meine Mutter nicht kannte, wären sie nicht erkennbar gewesen. Ich jedoch konnte sie problemlos ausmachen und wusste, dass sie dort nicht hingehörten. Ich streckte meine Hand nach ihrem Hals aus, um die Male zu berühren. Ich weiß nicht mehr, wieso ich es tat. Vielleicht dachte ich, sie würden meiner Mutter Schmerzen bereiten und ich könnte es mit einer sanften Berührung besser für sie machen? Vielleicht hielt ein Teil von mir die Male auch für Schmutz und ich wollte ihn wegwischen? Bevor meine zittrigen Finger ihre Haut berühren konnten, schlugen sie allerdings eine andere Richtung ein und legten sich auf ihre Schulter. Vorsichtig rüttelte ich sie. „ Maman “, flüsterte ich. Keine Reaktion. „ Maman , bitte wach auf“, bat ich sie und beobachtete ihr Gesicht. Ich wollte ein Zwinkern ihrer Augen, ein Zucken ihres Mundwinkels nicht verpassen. Doch da war nichts. Ihre Augen starrten ins Leere, ihr Mund stand offen und ihre Lippen waren trocken und bleich. „Bist du böse auf mich, Maman , weil ich mein Versprechen nicht gehalten habe?“, fragte ich sie. „Es tut mir leid, aber ich konnte nicht dort unten bleiben. Vergib mir bitte, Maman . Ab jetzt werde ich immer alles tun, was du möchtest. Aber du musst jetzt aufwachen. Bitte Maman !“ Mein Kinn fing an zu beben. Meine Unterlippe schob sich vor und Tränen verschleierten meine Sicht. Ich rüttelte sie stärker an der Schulter. „ Maman , bitte! Ich bin es. Dein Stern“, sagte ich. Vielleicht tat sie nur als ob, genau wie ich es oft getan hatte, weil sie Angst davor hatte, sich zu rühren, weil sie meine Stimme nicht erkannte und dachte, die bösen Männer seien zurück. Doch der Hinweis, dass ich es war, der an ihrer Seite kniete, half nicht. Maman war fort. Sie hatte mich verlassen.
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