Ehrlich gesagt habe ich bereits überlegt, mich selbst hinauszuwagen und den Kampf weiterzuführen. Vor vielen Jahren habe ich es schon einmal getan. Damals war ich selbst ein Beschützer der Menschen vor der Dunkelheit gewesen und hatte den ersten Jäger Allistair McFarlan begleitet. Gemeinsam waren wir durch die Welt gezogen, hatten die Untiere aufgespürt und sie getötet, bevor sie sich an den Menschen hatten gütlich tun können. Aber all das ist schon sehr lange her, und damals war ich noch nicht der, der ich heute bin. In jenen Tagen war ich ein Sterblicher gewesen und hatte mich frei bewegen können. Nun ist mir dies nicht mehr möglich, und selbst wenn ich es wagen würde, die Kirche zu verlassen, wie weit würde ich in sechzig Minuten schon kommen? Die Schreckgestalten halten sich nicht unbedingt direkt vor den Türen meines Zuhauses auf. Sie sind verteilt über die gesamte Stadt und diese ist groß, sehr groß.
Und somit sitze ich an dem alten Schreibtisch, dessen Holz bei jedem Aufstützen meiner Arme knarzt und ächzt und mir das Liebste in dem geräumigen Wohnzimmer ist, das nur einen kleinen Teil der gewaltigen unterirdischen Anlage ausmacht, die sich unterhalb der St. Mary’s Kirche befindet. Jahrhunderte ist es her, dass die Vorfahren meiner heutigen Gemeinde mir mein Zuhause erbauten, das tief in die Erde reicht. Mit viel Liebe haben sie mir und allen Jägern, die es seitdem gegeben hat, ein einzigartiges Heim geschaffen. Es ist ein Wunderwerk, gegraben in Stein, gestützt durch mächtige Pfeiler. Die Ausmaße des Ganzen sind gigantisch! Die Räumlichkeiten ebenso bemerkenswert wie nützlich: eine Küche, zwei Schlafzimmer mit Bad, ein medizinischer Raum, um Verletzungen zu versorgen, ein Labor samt Werkstatt, in der ich Pfeile und Silberkugeln für die Jagd herstellen kann, ein Trainingsraum sowie ein Wohnzimmer mit einem atemberaubenden Deckenfresko und einer der größten Bibelsammlungen, die es auf der Welt gibt. Doch nichts von all dem kann es mit der Herrlichkeit der Bibliothek aufnehmen, die hier ebenfalls angelegt wurde. Ihre Gänge sind mehrere hundert Meter lang. Das Ende der Regalreihen ist somit von ihrem Eingang nicht auszumachen. In der Gesellschaft von so vielen Werken des geschriebenen Wortes konnte ich mühelos Stunden, ach was, Tage verbringen. Mit seinen schwarzen Dielenbrettern, dem dunkelroten Teppich, dem warmen Licht und den gemütlichen, weichen Sesseln lädt dieses Zimmer zum Verweilen ein.
Doch der Komfort, den ich genießen darf und für den ich dankbar bin, kann mir nicht helfen, meine Einsamkeit zu überwinden. Ich habe niemanden zum Reden, niemanden, mit dem ich meine Gedanken teilen kann. Nur das Papier vor mir ist greifbar für mich, und somit entschließe ich mich dazu, mein Leben aufzuschreiben. Zum einen für mich selbst, um mich zu beschäftigen, und zum anderen für einen möglichen Finder, in dessen Hände diese Zeilen vielleicht eines Tages geraten. Ich hoffe, Sie haben Zeit, viel Zeit. Sowohl mir als auch Ihnen steht eine gewaltige Aufgabe bevor, denn ich bin beinahe eintausend Jahre alt.
Geboren wurde ich am 29. September im Jahre 982 in der Bretagne als einziger Sohn meiner Mutter Rosalie Cadoret und meines Vaters Iain Ryan. Zwei Jahre vor meiner Geburt war er aus Irland nach Frankreich gekommen. Durch die zwei unterschiedlichen Kulturen meiner Eltern wuchs ich mehrsprachig auf, lernte Französisch, Englisch und Irisch. Letzteres habe ich gänzlich verlernt, da ich es nicht benötigte. Wieso mein Vater seine Heimat verließ - diese Umstände sind mir bis heute verborgen geblieben, aber er wird seine Gründe gehabt haben. Schon recht bald lernte er meine Mutter kennen, eine sehr gottesfürchtige Frau, der ich wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Mit ihr teile ich die olivfarbene Haut, die braunen Haare, die tiefbraunen beinahe schon schwarzen Augen, ja selbst meine Nase und meinen Mund habe ich von ihr. Sie erzählte mir einmal, sie habe mich nach dem Erzengel Michael benannt. Sie sagte, mit meiner Geburt wäre das Licht in ihr Leben gekommen, das Gute, das das Böse vertreibt. Ich weiß nicht, ob sie damit andeuten wollte, dass es ihr vor meiner Geburt schlecht ging oder ob sie schon damals ahnte, dass ich zu mehr bestimmt bin. Ich selbst tippe auf Letzteres. Denn wie sollte man es anders erklären, dass sie mich ausgerechnet nach dem Engel benannte, der der Patron der Krieger und Soldaten ist? Auch ich sollte eines Tages der Beschützer der Krieger werden, der Auserwählten, die den Kampf gegen die Dunkelheit führen.
Was meinen Charakter angeht, bin ich mir nicht sicher, nach wem ich schlage. In der Vergangenheit habe ich von beiden Elternteilen Eigenschaften an mir entdeckt, sowohl gute als auch weniger gute. Ich konnte aufbrausend sein wie mein Vater, aber auch mitfühlend und verständnisvoll wie meine Mutter. Ich war hin und wieder stur und unnachgiebig wie er, hatte aber auch kein Problem damit, Kompromisse einzugehen wie sie. Was aber beide gemeinsam hatten, war ihre große und unerschütterliche Liebe zu Gott, die sie an mich weitergaben. Gott war das Wichtigste in unserem Leben auf dem Hof, der umgeben war von Buchen- und Eichenwäldern. Mein Vater hatte unser Holzhaus mit eigenen Händen gebaut. Es war sehr klein und im Grunde nur ein Raum mit einem Dach darauf. Die einzelnen Abschnitte, wie die Kochstelle, der Schlaf- und Essbereich, gingen nahtlos ineinander über, und man konnte sie nur an den wenigen einfachen Möbelstücken erkennen, die wir besaßen und die mein Vater ebenfalls eigenhändig gezimmert hatte. Die Kochstelle im vorderen Bereich des Hauses diente nicht nur zur Zubereitung unserer Mahlzeiten. Wir nutzten sie auch zum Beheizen des Hauses in kühlen Nächten. Richtige Winter gibt es in der Bretagne nicht. Oft wird es nie kälter als zehn oder acht Grad über Null, aber als sonnenverwöhnte Bretonen ließen uns diese Werte schon zittern. Auch Frost oder gar Schnee gibt es in diesem Teil des Landes nicht. Den ersten weißen Niederschlag sah ich erst mit Anfang zwanzig, als mich mein Weg nach Großbritannien führte. Aber ich greife zu weit vor. Eines nach dem anderen.
In diesem vorderen Abschnitt des Hauses wurde gekocht, gegessen und gelebt. Im hinteren Bereich schliefen meine Eltern. Mein Nachtlager hingegen befand sich in einer Art Hohlraum zwischen der Stube und dem Dach. Es war kein richtiger Dachboden, nur ein schmaler Bereich, wo ich nicht einmal sitzen konnte, sondern nur auf dem Bauch hineinkriechen und mich schlafen legen konnte. Es war aber nicht schlimm für mich, da ich mich ohnehin viel lieber draußen aufhielt. Bei allem, was getan werden musste, banden wir Gott mit ein und ließen Ihn an unserem Leben teilhaben. Wir priesen Ihn oft und beteten häufig. Wir baten Ihn um alles, egal um was es dabei ging: Regen für die Ernte, Heilung von Krankheiten, Kraft, um die Arbeit zu bewältigen. Und davon gab es reichlich. Wir bauten Buchweizen, Artischocken, Speiserüben und Rosmarin an. Außerdem standen auf unserem Grund zahlreiche Apfel- und Quittenbäume, und wir besaßen zwei Kühe, drei Schweine, zehn Schafe und noch einmal so viele Hühner. Ich bat Gott aber nicht nur darum, mir zu helfen, die Hühner zu füttern oder die Quitten, die vom Baum gefallen waren, einzusammeln, was nur zwei meiner Aufgaben waren. Ich erinnere mich auch daran, dass ich Ihn darum bat, mir zu helfen, ein Geschenk für meine Mutter zu finden, das ich ihr von einem meiner Streifzüge durch die umliegenden Wälder mitbringen konnte, einfach um ihr etwas Gutes zu tun. Gott half mir tatsächlich und ließ mich an dem Bach, der durch die Wälder floss und in dem wir unsere Wäsche wuschen und Wasser zum Trinken für uns und die Tiere holten, auf einen Stein stoßen. Es war ein etwa Handflächen großer runder Stein, dessen Oberfläche von der Natur glatt geschliffen worden war und alle Farben eines Regenbogens in sich eingeschlossen hatte. Dankbar, dass Gott ihn mir gezeigt hatte, nahm ich ihn aus dem klaren Wasser und trug ihn überglücklich zu meiner Mutter. In meinem kindlichen Glauben, dass es ein wunderbares Geschenk war und es sie freuen würde, überreichte ich ihr den Stein. Und wie die gute Mutter, die sie war, freute sie sich auch angemessen über dieses einfache Geschenk. Der Stein war einfach, und unser Leben war es auch. Einfach, aber gut. Es gab zwar viel Arbeit zu verrichten: Tiere füttern, Schafe scheren, Felder bestellen, ständige Reparaturen an unserer simplen Holzhütte und vieles mehr. Wir waren nur zu dritt; es gab keinen Nachbarn, den wir um Unterstützung bitten und mit einspannen konnten. Das nächste Haus stand eine halbe Tagesreise entfernt von uns, ganz zu schweigen von der nächsten Ortschaft. Somit mussten wir alle mitanpacken. Während meine Mutter nie vergaß, mich bei allem auch Kind sein zu lassen, verlangte mein Vater, je älter ich wurde, mehr von mir. So auch an dem Tag, als er sich mit unserer Wolle auf den Weg machte, um sie in der Stadt zu verkaufen.
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