„Du bist nun der Mann im Haus, Michael. Ich erwarte von dir, dass du dich auch so verhältst, während ich fort bin.“
Solche Reden richtete er oft an mich, und ich gestehe, dass ich nicht traurig war, wenn er uns für mehrere Tage verließ. Er war ein strenger Vater, und ich weiß, dass ich ihn nur selten herzhaft lachen sah, auch nicht dann, wenn meine Mutter und ich Albernheiten vollführten, um uns bei Regen und Kälte bei Laune zu halten. Leider ist auch das etwas, was ich in späteren Jahren von ihm übernommen habe: die Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung, was das Zeigen von Gefühlen angeht. Vielleicht dachte er auch, dass sich für einen Mann solche Ausbrüche der Heiterkeit nicht schickten und zu viele Emotionen einen schwach machten. Wie auch immer. Ich freute mich darauf, meine Mutter für eine Weile für mich allein zu haben. Natürlich bedeutete es nicht, dass ich meine Aufgaben vergessen und nachlässig sein konnte. Nein. Ich erledigte meine Arbeit so, wie man es mir beigebracht hatte. Auch um meiner Mutter Freude zu bereiten und sie stolz darauf zu machen, was für einen tüchtigen Sohn sie hatte. Aber ohne die bohrenden Blicke meines Vaters, der jeden meiner Griffe beäugte, ging mir alles wesentlich leichter von der Hand. Doch während seiner Abwesenheit war es in unserem Haus viel lauter als sonst. Wir sangen und lachten, tanzten und sprangen umher. Wir spielten Fangen, dachten uns Geschichten aus und plantschten, wenn es heiß war, in dem Bach. Wenn wir dann zurück im Haus waren, die brennende Sonne unsere Kleider getrocknet hatte, buk mir meine Mutter meinen Lieblingskuchen aus Buchweizenmehl, Eiern und reichlich Äpfeln. Diese Köstlichkeit gab es nur selten, da mein Vater Äpfel nur in Form von Cidre, Apfelwein, mochte. Quitten hingegen mochten wir alle gern. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und konnte aus allem ein Festessen machen. Sie scherzte oft darüber, dass sie glaubte, mein Vater wäre nur wegen ihrer Kochkünste bei ihr geblieben. Ich glaubte es ihr jedoch nicht, denn sie war auch eine wunderschöne und attraktive Frau. Ich war mir ziemlich sicher, dass eher dies der Grund dafür war, wieso er sie gewählt hatte. Ich vergötterte sie jedenfalls und blickte zu ihr mehr auf als zu meinem Vater. Und wenn sie den Apfel-Buchweizenkuchen machte, war sie meine Heldin. Aber auch Galettes , eine Art Fladen, die ebenfalls aus Buchweizen hergestellt werden, gehörten zu meinen Leibspeisen, ebenso wie ein Eintopf mit Schweinefleisch, Artischocken und kleinen Buchweizenklößchen, Huhn mit Quitten oder Buchweizengrieß mit Quitten. Was ich so gar nicht mochte, war Steckrübeneintopf. Damit konnte mich meine Mutter über den Hof jagen und ich würde ihn immer noch verweigern, was man von dem Apfelkuchen nicht behaupten konnte. An jenem Tag aß ich dreiviertel des Kuchens auf. Meine Mutter warnte mich noch, ich würde später Bauchschmerzen bekommen. Aber das war mir egal. Ich schaufelte mir noch mehr in den Mund, sah sie glücklich und zufrieden grinsend an und wischte mir mit dem Handrücken Krümel von Kinn und Wangen. Natürlich behielt meine Mutter Recht, und in der Nacht hatte ich fürchterliches Bauchweh. Ich dachte, ich müsse sterben, so schlecht war mir! Meine Mutter meinte: „Ich habe dich gewarnt, chéri .“ Sie sagte es aber nicht auf eine strenge Art, sondern auf eine sanftmütige, mitfühlende Weise, und hielt meine Haare zurück, während ich den ganzen Kuchen von mir gab, wobei sie immer wieder zärtlich chéri flüsterte, wie nur eine Mutter es vermag. Ich mochte es, wenn sie mich so nannte: chéri . Manchmal sagte sie auch étoile , Stern, zu mir. Schon damals trug ich die Lichtpunkte in meinen Augen, die meine geliebte Mutter zum Schwärmen brachten, mir aber eines Tages zum Verhängnis werden sollten. Inwiefern? Dazu später mehr.
Am Morgen nach dem Apfelkuchen-Erlebnis ging es mir wieder blendend, und als ich an den Resten des Kuchens vorbeilief, die noch auf dem Tisch standen, hatte ich schon wieder Appetit und naschte von ihnen. So schlimm kann diese Nacht also nicht gewesen sein. Dennoch war es das letzte Mal, dass ich diesen Kuchen aß und mit meiner Mutter darüber staunte, dass sich an meiner Versessenheit auf diese Leckerei rein gar nichts geändert hatte.
Als ich für meine Mutter Wasser vom Bach holen sollte, damit sie das Geschirr säubern konnte, protestierte ich und meinte, ich hätte mich noch nicht ganz erholt. Alles, was sie dazu sagte, war: „Wer am Morgen nach einer Nacht voller Bauchweh und Übelkeit schon wieder Süßigkeiten naschen kann, der kann auch zum Bach laufen und Wasser für seine Mutter holen, meinst du nicht, chéri ?“ Dann tätschelte sie meine Wange und lachte, als ich grimmig dreinblickend mit den Eimern in den Händen loszog. Auch wenn ich ihr Ein und Alles war, an der Nase herumführen konnte ich sie nicht. Sie wusste ganz genau, wann ich keine Lust hatte und nur so tat als ob.
Den Weg mit den leeren Eimern hinter sich zu bringen, ist ein Leichtes. Doch wenn die Behältnisse bis an den Rand mit Wasser gefüllt sind, verlangsamt es den Träger und der Weg zieht sich mit jedem Schritt mehr in die Länge, und die Eimer werden schwerer. Ich schaffte es schließlich doch, das Wasser zu meiner Mutter zu bringen, und strahlte sie überglücklich an, als ich das Haus betrat. Wenn ich aber dachte, sie würde mich dafür loben und mich von weiteren Arbeiten freisprechen, lag ich falsch. Sie sprach kein Wort der Anerkennung aus, sondern scheuchte mich gleich wieder nach draußen, um die Hühner zu füttern.
„ Maman !“, klagte ich, aber sie ließ sich nicht erweichen.
„Nun geh schon, Michael. Du weißt, es ist deine Aufgabe“, sagte sie.
Als auch das getan war, schlurfte ich zurück zu unserem Haus, in der Erwartung, gleich den nächsten Auftrag zu erhalten. Wenig begeistert trat ich daher ein und stellte mich wie ein Soldat vor meine Mutter, bereit, den nächsten Befehl in Empfang zu nehmen und auszuführen. Zu meiner Überraschung kam dieser nicht. Dafür erhielt ich einen sanften Kuss auf meinen dunklen Haarschopf und ein gehauchtes Merci, mon chéri . Verwundert hob ich meinen Kopf, strich mir ein paar Haarsträhnen, die mir über die Augen gefallen waren, zurück, und sah endlich das wunderbare Lächeln meiner Mutter, auf das ich den ganzen Morgen gewartet hatte. Sie so zu sehen, war das Schönste, was es in meiner kleinen Welt gab. Es war sogar noch herrlicher als der Buchweizenkuchen! Dies war das letzte Mal, dass ich sie so strahlend sah.
Der Klang von Pferdehufen, die über harten, trockenen Boden galoppieren, ertönte völlig unerwartet. Meine Mutter hielt abrupt in der Bewegung inne und ließ das Tuch, mit dem sie den Tisch abwischte, los.
„Ist es Papa?“, fragte ich und wollte zur Tür eilen, um nachzusehen, als meine Mutter mich am Arm packte und zurückhielt. Ich sah zu ihr auf und las die Antwort auf meine Frage von ihrem Gesicht ab: Es war nicht mein Vater.
„Du bleibst, wo du bist, Michael!“, sagte sie und drängte mich zurück ins Zimmer.
Ich tat, wie mir geheißen wurde, während sie zum Fenster ging und nach draußen sah. Ich hörte sie leise fluchen und war entsetzt, solche Worte von ihr zu hören. Meine Maman fluchte nie! Aber das hier war eine Situation, in der es für sie in Ordnung war, es zu tun.
Hastig wirbelte meine Mutter herum und fing an, den Tisch beiseitezuschieben. Mit großen Augen sah ich dabei zu. Ich verstand nicht, was los war. „ Maman , wer ist da?“, fragte ich.
Sie kniete sich auf den Boden, sah zu mir auf und sagte: „Böse Menschen.“ In ihren Augen standen Verzweiflung und pure Angst. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie fing an, die Bretter aus dem Boden zu lösen. Es dauerte nur ein paar Wimpernschläge und sie war fertig damit. Plötzlich lag vor uns ein Loch, ein Geheimversteck. Ich starrte die schwarze Öffnung ratlos an. „ Vite !“, rief meine Mutter. Ich sah von dem Loch zu ihr. Sie winkte mich zu sich und bedeutete mir, in das Versteck zu gehen. „ Vite !“ Dieses Mal schrie sie lauter, energischer, und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. Ich trat näher und betrachtete das Loch erneut. Ich sah zu meiner Mutter. „Bitte, Michael, beeil dich!“, flehte sie mich an Tränen standen in ihren Augen. Weinte sie wegen mir, weil ich ihr nicht gehorchte? Das hatte ich nicht gewollt. Da ich dachte, es würde an mir liegen, dass sie weinte, gab ich mir einen Ruck und kletterte in das Loch hinunter. Sobald ich dort unten hockte, stellte ich etwas fest. „Es ist nicht genug Platz, Maman .“ Als ich sie ansah, lächelte sie und nickte nur. Da begriff ich, dass sie mir nicht folgen würde. „ Maman , nein!“, rief ich und wollte wieder nach oben klettern, doch mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, drückte sie mich wieder hinunter.
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