Die Sonne stand bereits hoch über den Wipfeln der Bäume und wärmte mein Gesicht. Es muss schon fast Mittag sein , dachte ich. Es war sicherlich um einiges später, als mein Vater geplant hatte. Natürlich gab er mir auch daran die Schuld, während ich der Meinung war, dass es sicher an dem vielen Wein lag, der ihn so schläfrig gemacht und ihm Mühe bereitet hatte aufzustehen. Selbstverständlich sprach ich meine Vermutung nicht laut aus. Grundgütiger, nein! Meines Vaters Stimmung war ohnehin auf ihrem Tiefpunkt angelangt, da brauchte es nicht noch weitere Provokation meinerseits. Stattdessen kletterte ich im strahlenden Sonnenschein an jenem Tag auf die Ladefläche unseres Wagens, lauschte dem lieblichen Gezwitscher der Vögel und dem Gemecker meines Vaters und dachte mir meinen Teil. Sein Gezeter ließ nicht einmal nach, als er auf den Bock stieg, die Zügel in die Hand nahm und die Pferde dazu antrieb, sich vorwärtszubewegen. Derweil schaute ich hinauf zum blauen Himmel, an dem keine einzige Wolke hing. Gelegentlich flog ein Vogelschwarm vorüber, und ich versuchte, mich damit zu beschäftigen herauszufinden, welcher Art sie angehörten. Natürlich bewegten sie sich viel zu weit oben, als dass man es erraten konnte. Also konzentrierte ich mich darauf, die unterschiedlichen Formationen zu bewundern, in denen die Schwärme flogen. Ob man daran ausmachen konnte, zu welcher Art sie gehörten? Weise Menschen hätten diese Frage sicher beantworten können, mein Vater hingegen nicht, ganz zu schweigen davon, dass ich es nicht einmal wagte, einen Laut von mir zu geben.
Plötzlich stoppte der Wagen, wodurch ich schlagartig aus meiner Trance geholt wurde, in die mich das stete Gerüttel und der vorüberziehende Himmel hatten fallen lassen. Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Mein Blick klärte sich, und ich entdeckte, dass die Sonne bereits weitergewandert war. Ihr veränderter Stand verriet mir, dass es mittlerweile Nachmittag sein musste.
„Du wirst still sein, Michael. Wenn du etwas Dummes sagst oder tust, ändere ich meine Meinung und werde dich gleich hier und jetzt los. Hast du das verstanden?“, flüsterte mein Vater, ohne sich zu mir herumzudrehen.
Seine Worte verwirrten mich. Ich wusste nicht, was los war und verstand nicht, wie er auf die Idee kam, ich könnte etwas Dummes sagen oder tun. Das hatte ich doch hinter mir, und in den letzten Stunden hatte ich mich meinem Erachten nach tadellos benommen. Wieso sollte ich nun etwas daran ändern? Doch dann hörte ich die Stimme eines Mannes, der einen Gruß rief, und ich zählte eins und eins zusammen. Wir waren auf jemand Fremdes gestoßen und mein Vater fürchtete, ich könnte demjenigen durch ein Wort oder eine Tat zu verstehen geben, was er mit mir vorhatte. Der Tonfall, mit dem er die Drohung ausgesprochen hatte, ließ aber keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. Ich glaubte ihm und traute es ihm zu, dass er sie Wahrheit werden lassen würde, sollte ich irgendetwas versuchen. Ich traute es ihm ebenfalls zu, dass er nicht nur mir etwas antun würde, sondern auch demjenigen, auf den wir getroffen waren. Dafür wollte ich nun wirklich nicht verantwortlich sein. Erst recht nicht, als ich mich erhob, an meinem Vater vorbei schaute und sah, dass es ein einfacher Bauer und dessen Frau waren, die sich uns winkend näherten.
„Seid gegrüßt, Reisende. Woher kommt ihr, und wohin wollt ihr?“, fragte der Mann lächelnd. Er hatte ein rundes Gesicht mit grünen wachsamen Augen, einer Knollnase und einem dunklen Schnauzbart darin, in dem sich einige silberne Härchen zeigten. Auf seinem schwarzen Haupthaar saß ein heller breitkrempiger Hut. Er trug ein weißes Leinenhemd und dunkelbraune Beinlinge, die mit schwarzen Binden umwickelt waren, und schwarze Lederstiefel: die typische schmucklose Kleidung der einfachen Bevölkerung.
„Wir kommen aus der Nähe von Auray, und wir wollen nach Guingamp“, antwortete mein Vater. Ich sah ihn von der Seite an und staunte darüber, dass er log, ohne rot zu werden. Nun, ich war nicht sicher, ob alles, was er gesagt hatte, falsch war, aber eines stimmte auf keinen Fall: Wir stammten nicht aus Auray! Nicht einmal aus der Nähe. Was den anderen Ortsnamen anging – von dem hatte ich noch nie gehört. Dem Bauern allerdings schien er geläufig zu sein.
„Da habt ihr noch eine weite Strecke vor euch. Ihr seid in der Nähe von Loudéac. Ihr benötigt bestimmt noch zwei Tage für diese Reise“, erklärte er uns. Seine Frau, die mittlerweile zu ihrem Mann gestoßen war, nickte zustimmend. Auch sie hatte ein volles rundes Gesicht mit roten Wangen und Grübchen darin. Ihre blauen Augen leuchteten, als sie mich sah, und ihr Lächeln wurde breiter. Ich mochte sie sofort. Sie strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Alles, was ich bei meiner Mutter gehabt hatte. Am liebsten wäre ich vom Wagen gesprungen, zu ihr gelaufen und hätte mich an sie geschmiegt. Ihr runder Leib versprach Weichheit und Geborgenheit.
„Wenn du nicht so viel sabbeln würdest, wäre es sicher nur halb so viel Zeit“, murmelte mein Vater. Diese Unhöflichkeit raubte mir den Atem. Ich hoffte, der Bauer und seine Frau hatten die Worte nicht gehört.
„Was sagt Ihr? Ihr müsst lauter sprechen. Seit einer schweren Krankheit höre ich nicht mehr so gut“, meinte der Mann und tippte sich lachend an sein linkes Ohr. Ich beobachtete ihn genau, versuchte herauszufinden, ob er nur so tat als ob. Nach einer Weile kam ich zu der Überzeugung, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Aber was war mit seiner Frau? Sie klopfte sich die Hände an ihrer Schürze ab und schien mehr damit beschäftigt zu sein, ihre Haare zu richten, die durch die harte Arbeit durcheinandergeraten waren. Auch sie schien nichts von dem gehört zu haben, was mein Vater gesagt hatte. Ich konnte mich also entspannen. Wie war das gewesen? Nichts Dummes tun oder sagen? Mein Vater sollte sich besser selbst an das halten, was er anderen riet.
„Ich sagte: Wisst Ihr, ob es in Loudéac ein Wirtshaus gibt, wo wir einkehren können?“, fragte er.
Der Bauer nickte. „Ja, ja. Da gibt es ein Wirtshaus, aber es ist sehr kostspielig, eine Nacht dort zu verbringen und etwas zu essen zu kaufen.“
„Das lasst nur unsere Sorge sein, guter Mann“, erwiderte mein Vater, wohl darauf bedacht, nicht zu verraten, ob und wie viel Geld wir bei uns trugen. Er verhielt sich äußerst besonnen und vorsichtig. Das musste ich ihm lassen. Er wusste genau, was er tat, vertraute dem Fremden nicht.
„Ihr könnt gern für heute Nacht bei uns bleiben. Wir haben genügend Platz und reichlich zu essen. Und uns müsst ihr nichts dafür zahlen“, meinte der Bauer und lachte lauthals. Ich staunte über seine Herzensgüte, mit der er uns begegnete, obwohl er uns nicht kannte. „Es wird ohnehin bald dunkel. Dann könnt ihr den Weg nicht mehr erkennen. Unser Haus steht nicht weit von hier. Es würde uns sehr freuen, Gesellschaft zu haben“, redete der Mann weiter auf meinen Vater ein. Dieser schüttelte jedoch den Kopf und meinte, dass wir es schon schaffen würden, rechtzeitig dort einzutreffen.
„Eine kräftige Mahlzeit würde dem Jungen sicher guttun“, mischte sich nun die Bauersfrau ein und deutete auf mich. „Er sieht ein bisschen kränklich aus. Wann hast du das letzte Mal etwas Anständiges gegessen, Junge?“, fragte sie mich.
Ich holte Luft und setzte zu einer Antwort an, als mein Vater mir zuvorkam. „Es geht ihm gut. Habt Dank für das freundliche Angebot, aber wir wollen Euch nicht zur Last fallen. Lebt wohl“, sagte er, und bevor die beiden etwas erwidern konnten, gab mein Vater den Pferden die Zügel und wir fuhren davon. Er trieb die Tiere heftig an, als wären wir auf der Flucht vor dem Bauer und dessen Frau, die in der Ferne immer kleiner wurden.
Loudéac unterschied sich sehr von der Stadt, in die mich mein Vater früher mitgenommen hatte. Die Häuser waren zwar auf die gleiche Bauweise erschaffen worden, allerdings wurden sie hier durch befestigte Straßen aus Pflastersteinen miteinander verbunden, anstatt dass man durch aufgeweichte Erde, übersät von Abfall und tierischen und menschlichen Exkrementen, waten musste. Es gab links und rechts der Straßen schmale Rinnen, in denen aller Unrat entsorgt wurde und aus denen ein beißender, bestialischer Gestank aufstieg. Vom Wagen aus sah ich all das an mir vorüberziehen und dachte, wie froh ich war, dass ich nicht durch diese schwarzbraune Brühe gehen musste. Als mein Vater uns über die Pflastersteine fuhr, war es zunächst reichlich seltsam für mich, das Rütteln und Holpern zu spüren, das dafür sorgte, dass mein ganzer Körper kribbelte, und den Lärm zu hören, den die Räder bei der Fahrt über den harten und unebenen Belag verursachten. Doch nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt und schaute mir die Stadt an.
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